Gedenken
Stolpersteine in Lünen: „Sie ahnen nicht, was das für mich bedeutet“
„Sie können sich nicht vorstellen, was das für mich bedeutet“, sagt Eran Levi (76) in der Lüner City - auf Englisch. Deutsch hatten ihn seine Eltern nicht lernen lassen, mit gutem Grund.
Hinweis: Dieser Text erschien bereits erstmalig am 14. Juni 2022. In Andenken an die Reichspogromnacht haben wir ihn erneut veröffentlicht.
Dass Eran Levi überhaupt auf die Welt kam, ist ein Wunder. Das ahnt jeder, der am Montagmittag (13. 6.) seinen Einkaufsbummel unterbricht, um den Rednerinnen und Rednern einer ganz besonderen Gedenkveranstaltung zu lauschen. Erans Vater Yacov hatte nur mit Glück die Flucht von Lünen nach Palästina geschafft. Wie die Großeltern folgten, gleicht einer Achterbahnfahrt der Gefühle: hin- und hergerissen zwischen Abschiebung, Untergang und Rettung. 82 Jahre später steht der Enkel selbst wieder da, wo das Leben seiner Vorfahren eine so schreckliche Zäsur erfuhr. Und er bedankt sich.
„Sie glauben gar nicht“, sagt Eran Levi auf Englisch, „was das heute hier für mich und meine Familie bedeutet“. Seine längst verstorbenen Großeltern, sein Vater und seine Tante „blicken auf uns von oben herab“, sagt er. Eran Levi spricht leise. Ein Mikrophon verstärkt seine Stimme. Das ist nur wegen des Lärms auf der nahen Baustelle nötig. Die zig Menschen, die um ihn herum stehen - darunter viele Kinder und Jugendliche - sind mucksmäuschenstill, während ausgerechnet der Mann von Freundschaft spricht, dessen Familie so viel Hass entgegengeschlagen war.
Bürgermeister: „Gesellschaft ist stärker als Hass“
„Unsere Gesellschaft ist stärker als der Hass, der unsere Gemeinschaft immer wieder bedroht.“ Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns‘ Worte zu Beginn der Veranstaltung des Arbeitskreises Stolpersteine Lünen klingen weniger wie eine Aussage als vielmehr wie ein flehender Appell. Denn längst blicken Menschen wieder in den schwindelerregend tiefen Abgrund ihrer Möglichkeiten. „Seit mehr als 100 Tagen erleben wir, was passiert, wenn Fanatismus um sich greift. Und wir sehen die Gefahr, dass sich so etwas wie damals doch wiederholen könnte“, so Kleine-Frauns mit Blick auf den Krieg in der Ukraine.
Gerd Blumberg, gebürtiger Lüner, freut sich, dass Stolpersteine an die Freunde seiner Familie erinnern. © Günter Blaszczyk
Stolpersteine - diese 10-mal-10 Zentimeter kleinen, vom Künstler Gunter Demnig entwickelten, polierten Gedenkplatten gegen das Vergessen und Verdrängen - seien eine Hilfestellung, sich immer wieder daran zu erinnern, zu was Menschen im Stande sind, sagt der Bürgermeister. „Die Verbrechen von damals dürfen sich nicht wiederholen.“
Eran Levi hört es, versteht die Worte aber nicht. Seine Eltern hätten nicht gewollt, dass er Deutsch lernt, sagt er später. Ihm sind die polierten Messingplatten im Lüner Pflaster kein Anlass, aus dem Tritt zu geraten, wie es Kleine-Frauns ausgedrückt hat. Im Gegenteil. Als sich Levi vor die vier Platten mit den Namen und Lebensdaten von Opa Paul, Oma Lina, Papa Yakov und Tante Else hockt, Kerzen anzündet und ein Gebet spricht, scheint er wieder Tritt zu fassen. Lebensspuren derer, die nur rohe Gewalt vertreiben konnte, werden in Lünen wieder sichtbar.
Freundschaft hat Unrechtsherrschaft überdauert
Ganz in der Nähe steht Gerd Blumberg, Der gebürtige Lüner blickt abwechselnd zu den vier Steinen und zu dem großen, schlanken Mann daneben. Eran Levi kennt er schon lange, seine Angehörigen ebenfalls. „Unsere Familien verbindet eine enge Freundschaft“, sagt der Rechtsanwalt im Ruhestand. Dieser Verbindung konnte weder die große Distanz zwischen Deutschland und Israel etwas anhaben noch konnte es zuvor die Nazis.
Gunter Demnig, der Initiator des Stolpersteine-Projekts, hat die sieben neuen Steine in Lünen selbst verlegt. © Günter Blaszczyk
1962 hatte Gerd Blumberg Abitur gemacht in Lünen. In seiner Schulzeit sei die Zeit der Nazi-Diktatur nie thematisiert worden. „Zumindest nicht in der Schule, zum Glück aber bei uns zu Hause. Lina Levi, damals schon Witwe, sei 1959 zu Besuch bei ihnen zu Hause gewesen. 1962 sei er als junger Student dann zu ihr gereist: der erste von zahlreichen Aufenthalten in Israel. Erst Ende der 1970er-Jahre habe dann eine Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch in Lünen langsam begonnen. Erst dann wurde auch öffentlich, was Blumbergs Vater für seine Freunde getan hatte.
In der Pogromnach vom 9. auf den 10. November 1938 hatte der braune Mob auch die Wohnung der Levis gestürmt. Lina und ihrem Mann war gerade eben die Flucht durch die Hintertür gelungen. Aber wohin dann? Sie retteten sich zu Gerd Blumbergs Vater Otto, dem damaligen Otto Blumberg, dem damaligen Direktor des Amtsgerichts Lünen. Er brachte die Levis wie auch 18 andere Menschen im Gefängnis des Gerichts in Sicherheit vor Misshandlung und Mord. Dass der ihnen früher oder später bei dem damaligen Unrechtsregime drohen würde, war dem Metzgermeister und seiner Frau schon lange klar.
Briten verweigern zweimal das Bleiben in Palästina
Sohn Yakov, damals 15 Jahre alt, war bereits 1937 alleine nach Palästina geflohen. Sie selbst waren ihm ein Jahr später gefolgt - und wieder zurückgekehrt nach Lünen, nachdem die Einwanderungsbehörde der britischen Mandatsmacht Großbritannien ihre Zustimmung zum Bleiben verweigert hatte. 1940 machte das Ehepaar Levi, das schon seit drei Jahren nicht mehr sein Geschäft führen konnte, einen neuen Anlauf, der fast im Mittelmeer geendet hätte.
Mitglieder des Arbeitskreises Stolpersteine und Schülerinnen und Schüler des vom-Stein-Gymnasiums haben die Gedenkstunde mit Texten begleitet. Die Gedenksteine, die an Familie Levi erinnern liegen vor der neuen Eisdiele, dem Scharbaum-Haus, in Lünen. © Günther Blasczyk
Wieder war es die britische Behörde, die verhinderte, dass die Levis zu ihrem Sohn ins Kibbuz ziehen. Die Verantwortlichen hatten, ungeachtet ihrer Zusage, Palästina zur „Heimstatt des jüdischen Volkes“ zu machen, rigorose Einwanderungsbeschränkungen verfügt. Statt die Levis und andere in Haifa von Bord zu lassen, beschlossen sie eine Weiterfahrt des Schiffes nach Mauritius - gegen heftigen Widerstand der jüdischen Bevölkerung Palästinas. Aktivisten der zionistischen Hagana versuchten mit einer Bombe das Auslaufen des Schiffes zu verhindern und machten einen dramatischen Fehler. Der Sprengsatz war viel zu groß. Er machte das Schiff nicht manövrierunfähig, sondern ließ es untergehen. 265 Menschen ertranken. Lina und Paul Levi konnten sich retten. Und bleiben.
Levi: „Jeder sollte leben dürfen, wo er möchte“
Eran Levi lächelt, als einzelne Gymnasiasten spontan aus der Menge hervortreten und ihm die Hand schütteln, bevor sie ein Haus weitergehen. Dort hat Gunter Demnig, der Initiator des inzwischen international angelegten Stolpersteine-Projekts, bereits drei weitere Steine in das Pflaster eingelassen: Erinnerungen an die Familie Gumbert. Eran Levi verweilt noch etwas. „Jeder Mensch sollte das Recht haben, da zu leben, wo er es möchte“, sagt er: eine Lehre aus der Vergangenheit, die immer gültig sei.
Eine Woche wir der 76-jährige Israeli noch bleiben - nicht nur in Lünen, sondern auch in Aachen und anderswo. Er ist auf Recherchereise. „Ich schreibe ein Buch über meine Familie“ - auf Hebräisch, seiner Muttersprache.
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