Steag-Kraftwerk: Nach der letzten Sprengung bleiben Staub und Sorgen

© Günther Goldstein

Steag-Kraftwerk: Nach der letzten Sprengung bleiben Staub und Sorgen

rnSteag

Zum letzten Mal hat es „Wumms“ gemacht auf dem Steag-Kraftwerksgelände. Hagedorn hat am Samstag Kessel, Bunkerschwerbau und den letzten Schornstein sprengen lassen. Eine Sorge bleibt.

Lünen

, 31.07.2021, 21:43 Uhr / Lesedauer: 3 min

Der Samstagmorgen (31. 7.) beginnt mit rappelnden Jalousien und mit einer amtlichen Warnung des Deutschen Wetterdienstes. Zwischen 5 und 16 Uhr sei mit starken Windböen zu rechnen, die mit 55 bis 70 Stundenkilometern durchs Land ziehen - auch in Lünen. Wenige Stunden später - es weht immer noch kräftig und der Himmel ist dunkel gefärbt - trifft die Mitteilung des Unternehmens Hagedorn ein. „Heute gegen 15 Uhr wird es am ehemaligen Steag-Kraftwerk in Lünen die letzte Sprengung geben.“

Jetzt lesen

Bei Gewitter, so sagt Hagedorn-Sprecherin Judith Roderfeld, auf Anfrage müsse Sprengmeister André Schewcow die Aktion abblasen. Aber diese Windböen seien kein Hindernis. Und der Sprühregen sei sogar willkommen.

Sprengmeister trotzt den Windböen

„Wir werden ohnehin Wasserfontänen einsetzen am Kraftwerk, um den Staub zu binden.“ Dass es davon eine Menge geben würde, steht von vorne herein fest. Insgesamt rund 6000 Tonnen Ziegel, Stahlbeton und Energietechnik gilt es umzustürzen. Die 292 Bohrlöcher für den Sprengstoff hatte Schewcow in den Vortagen an den letzten weithin sichtbaren Gebäuden auf dem Gelände angebracht: dem 130-Meter Schornstein, dem Kessel samt dem nebenstehenden Aufzug und dem sogenannten Bunkerschwerbau, in dem einst die Kohle gelagert war.

Joachim Hansdieke ist als erster da. Er steigt neben dem Bahnübergang Brunnenstraße, kurz hinter der Zufahrt zum Gewerbegebiet Frydagstraße vom Fahrrad. „Von hier aus wird man einen guten Blick haben“, sagt er. Ende März, als das Unternehmen den Kühlturm und den Langen Lulatsch - den 250-Meter-Schornstein, der einst als Europas höchster Schlot galt - sprengen ließ, stand der Mann aus Alstedde auf dem Lippedamm. Jetzt hier, näher dran. Hansdieke könnte sich die Sprengung auch online ansehen. Aber vor Ort sei das doch etwas anderes. „vor allem, wenn man da 40 Jahre gearbeitet hat“. So wie er.

Wiedersehen mit Kraftwerks-Kollegen

Der Betriebselektriker im Ruhestand hat sich nicht verabredet. Dennoch wird er bald nicht aufhören, alte Kollegen zu begrüßen. Einer nach dem anderen trifft ein. Manche haben in den Satteltaschen ein paar Bierflaschen dabei: ein letztes Prosit auf das Unternehmen, das nicht nur ihre eigene berufliche Heimat war. Das Kraftwerk hat wie kaum ein anderes Unternehmen, seit 1938 die Lüner Industrie geprägt: erst als von der Kriegswirtschaft verordnete Energiequelle für die Aluminiumproduktion, dann als Motor der Wirtschaftswunders. Generationen von Lünern haben dort gearbeitet, bis Ende 2018 Schluss war.

Kurz nachdem die Bundesbahn den Vertrag über die Lieferung von Bahnstrom gekündigt hatte, beantragte die Steag - die 1937 in Lünen gegründete Steinkohle-Elektrizitäts AG - die Stilllegung ihres ersten Kraftwerkes. Der Betrieb war nicht mehr wirtschaftlich. Und auch nicht mehr ökologisch sinnvoll, wie Kritiker sagten. Denn trotz permanenter Investitionen in Umwelttechnik stieß das Werk jährlich 2,1 Millionen Tonnen CO2 aus.

Klaus Schwarze, ehemaliger Leiter des Steag-Kraftwerks (r.) und der aktuelle Chef des Steag-Teams, Peter Hubbertz (l.), zusammen mit dem technischen Leiter von Trianel, Martin Fricke: nur drei von zahlreichen Lüner Kraftwerkern die sich sich die Sprengung ansahen. Fricke war Co-Moderator im Live-Stream.

Klaus Schwarze, ehemaliger Leiter des Steag-Kraftwerks (r.) und der aktuelle Chef des Steag-Teams, Peter Hubbertz (l.), zusammen mit dem technischen Leiter von Trianel, Martin Fricke: nur drei von zahlreichen Lüner Kraftwerkern die sich sich die Sprengung ansahen. Fricke war Co-Moderator im Live-Stream. © Günther Goldstein

Nostalgie macht sich breit. „Unser Kraftwerk ist das schönste an der Lippe“, sagen die Männer die sich zuprosten. Auch der junge Nachbar am Stummhafen, das 2014 ans Netz gegangene Trianel-Kraftwerk, könne da nicht mithalten. Sicher, es sei moderner, „aber nicht so schön“. Dass manche von ihnen zu den rund 90 Steag-Beschäftigten gehören, die für Trianel den Betrieb führen, ändert daran nichts. Auch diese Schönheit ist allerdings vergänglich.

Ärger über kurzfristige Vertreibung

Seit Juni 2020 läuft der Rückbau der drei Kraftwerksblöcke. Immer wieder hat es Hagedorn dafür krachen lassen. Im Oktober ließ der Abbruch-Spezialist aus Gütersloh die Rauchgasentschwefelungsanlage sprengen, im Januar 2021 den Elektrofilter, im Februar die Rauchgasentstickungsanlage, im März bei der „größten Sprengung Deutschlands“ den Kühlturm und den 250-Meter-Schlot und im Juni den 90-Meter-Schornstein. Jetzt den Rest. Noch fünf Minuten, da wechselt die Stimmung abrupt: von kollegialer Wiedersehensfreude und wehmütiger Nostalgie zum Ärger.

Ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes fordert in Rücksprache mit dem Vertreter der Bezirksregierung Arnsberg alle auf, aus Sicherheitsgründen mindestens 100 Meter weiter zu gehen. Raus aus dem Gefahrengebiet. Allerdings auch weg von dem guten Sichtfenster. Die späte Benachrichtigung ärgert alle. Jetzt bleibt keine Zeit, einen anderen Beobachtungsplatz zu beziehen, etwa den Lippedamm oder den Balkon des Trianel-Kraftwerks.

Gewerkschafter hat klaren Appell

Die drei Hornsignale des Sprengmeisters sind bei starkem Gegenwind nicht zu hören. Die beiden Explosionen umso mehr. Der Schornstein faltet sich zusammen, das Kesselhaus ebenfalls. Aber das lässt sich hinter den Bäumen mehr erahnen als erkennen.

„Das wars jetzt“, sagt Joachim Hansdieke, während die dicke braune Staubwolke über ihren Köpfen in Richtung Lünen zieht. Seine Kollegen von einst nicken, auch Ludger Kerkhoff. Er war nicht nur 43 Jahre auf dem Werk, sondern engagiert sich darüber hinaus auch noch in der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Als Ortsgruppenvorsitzender der Steag treibt ihn eine große Sorge um: „Was jetzt kommen wird.“ Lager mit viel Fläche und wenig Personal lehnt er genauso ab wie Unternehmen, die nur Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor schaffen wollen. Dass auf dem 37 Hektar großen Steag Areal, das Ende des Jahres von den Schuttbergen befreit sein soll, einmal bis zu 2000 anspruchsvolle neue Jobs entstehen sollen, wie die Politik versprochen hat, „wünsche ich mir sehr, aber das will ich erst sehen.“

Jetzt lesen

Schlagworte: