Martin Grieshaber wohnt seit mehr als 40 Jahren in der Siedlung „Am Kanal“ in Lünen. Seit 2012 ist der heute 61-Jährige auch Vorsitzender der Siedler-Interessengemeinschaft und damit so etwas wie der „Sprecher“ der Menschen, die zwischen Bebelstraße, Blücherstraße und dem Datteln-Hamm-Kanal wohnen.
1922 wurde die Siedlung als Heimat für die Bergleute der Zechen Victoria, Preußen und Gneisenau errichtet, inzwischen wohnen Menschen ganz unterschiedlicher Berufsgruppen dort. „Wenn ich nochmal wählen könnte, würde ich wieder herziehen. Die Gemeinschaft ist einfach super“, schwärmt Grieshaber, der selbst im Bergbau gearbeitet hat und sich inzwischen als „Unruheständler“ ehrenamtlich um die Belange der Siedlung kümmert.
„Das Dorf“ mit rassistischer Bezeichnung?
Dass viele der Häuser in ihrer Form nicht mehr so gebaut werden würden – viele und steile Treppen, niedrige Decken und enge Durchgänge –, tut der Beliebtheit der Siedlung keinen Abbruch. „Es gibt natürlich viele alleinstehende Ehepaare, die hier schon länger wohnen. Aber es gibt auch immer wieder Anfragen, ob was frei wird“, erzählt Grieshaber.
Längst wohnen am Kanal nicht mehr nur Menschen, die auch aus Lünen stammen. Wie die gesamte Stadt Lünen ist auch die ehemalige Bergmannssiedlung heute multikulturell. Eine Tatsache, die aufgrund einer volkstümlichen Bezeichnung für die Siedlung schon zu kuriosen Begebenheiten geführt hat, wie Grieshaber zu berichten weiß.
Gerade vielen älteren Lünern dürfte die Kanalsiedlung noch als „N-Dorf“ bekannt sein. Das „N“ steht in diesem Fall für eine heute als rassistisch wahrgenommene Bezeichnung für schwarze Menschen und soll daher in diesem Artikel nicht reproduziert werden.

„Ich kann mich erinnern, dass mal ein dunkelhäutiger Mann hierhergekommen ist und sich eine Wohnung angeschaut hat“, erzählt Grieshaber. „Ich habe ihn dann gefragt, ob er weiß, wie die Siedlung früher genannt wurde. Er wusste das offenbar sogar, meinte aber, dass das für ihn kein Problem sei.“
Ohnehin werde heute so gut wie gar nicht mehr vom „N-Dorf“ gesprochen. „Für uns ist es ganz einfach nur ‚das Dorf‘ und jeder weiß, was gemeint ist“, stellt Grieshaber klar. Eine bewusste Distanzierung von dem Begriff sei nicht nötig. „Aber wir passen schon darauf auf, was wir sagen.“ Älteren Bewohnern sei der Begriff als Ortsbezeichnung schließlich zumindest noch geläufig.
Bergleute hatten geschwärzte Gesichter
Doch wie ist die Bezeichnung im Volksmund überhaupt entstanden? Dafür ist wahrscheinlich eine Reise zu den Anfängen der Bergmannssiedlung um das Jahr 1920 herum nötig.
Beate Lötschert, Fachbereichsleiterin Wohnen und Soziales bei der Stadt Lünen, sagt: „Damals kamen wohl viele Bergleute noch mit geschwärzten Gesichtern nach Hause, weil sie sich auf der Arbeit nicht waschen wollten oder konnten. So ist dann wahrscheinlich scherzhaft diese Bezeichnung entstanden.“ So habe es auch ihre eigene Großmutter erzählt.

Martin Grieshaber hat noch eine andere Erklärung parat. Die kreisförmige Bauweise der Siedlung – ursprünglich war auch südlich des Kanals eine Bebauung geplant – habe wohl viele Menschen an einen Kraal erinnert. Das Wort stammt aus dem Niederländischen beziehungsweise Afrikaans und bezeichnet kreisförmig angelegte Dörfer, die vor allem bei Volksstämmen im südlichen Afrika verbreitet sind.
„Gehört habe ich diese Erklärung auch schon mal“, sagt Beate Lötschert, fügt aber hinzu: „Das deckt sich nicht mit dem, was ich, auch aus meiner eigenen Familie, gehört habe.“ Am plausibelsten bleibe die Herleitung über das äußere Erscheinungsbild der Bergleute nach der Schicht.
„N-Dorf“ war nie offizielle Bezeichnung
Noch einmal einen anderen Ansatz beschreibt Hans-Jürgen Kistner, ehemaliger Stadtarchivar in Kamen, in seinem Beitrag zum Jubiläum der mit der Kanalsiedlung vergleichbaren „Hindenburgsiedlung“ in Kamen, der im Jahrbuch 2023 des Kreises Unna erschienen ist.
Die Erklärung mit den geschwärzten Gesichtern sei „falsch“, heißt es da in aller Deutlichkeit. Große Badebottiche in Zechen habe es bereits zur Jahrhundertwende gegeben. „Eine andere Erklärung besagt, dass es sich aus dem plattdeutschen Begriff ‚Niggesdorf‘ (‚Neues Dorf‘) ableiten könnte“, schreibt Kistner weiter, wenngleich er eine endgültige Auflösung schuldig bleibt. Ob es in zwei benachbarten Städten zwei unterschiedliche Herleitungen für denselben Begriff gibt, lässt sich also auch nicht abschließend belegen.
Was sicher ist: „N-Dorf“ war nie eine offizielle Bezeichnung für die Siedlung „Am Kanal“ in Lünen. „In unseren Akten lässt sich der Begriff nicht explizit finden. Der Begriff wurde in der Umgangssprache verwendet und ist demnach eher in Zeitungsartikeln zu finden“, schreibt Jennifer Ebenstreit, Leiterin des Lüner Stadtarchivs, auf Anfrage. Auch die Ruhr Nachrichten haben in der Vergangenheit also zur Verbreitung des Begriffs beigetragen.

Da inzwischen immer weniger Menschen leben, die Kontakt zu Personen aus der Anfangszeit der Bergarbeitersiedlung hatten, ist es möglich, dass der Begriff „N-Dorf“ langsam, aber sicher auch aus dem umgangssprachlichen Sprachgebrauch der Lüner verschwinden wird. „Der Bezug ist heute weg, damit ist der Begriff Teil der Geschichte des Volksmunds“, sagt Beate Lötschert. Aufgrund der etablierten offiziellen Bezeichnung sei es auch nicht die Aufgabe der Stadt, eine neue Sprachregelung zu forcieren.
Für die Bewohner der Siedlung scheint das Ganze ohnehin eine untergeordnete Rolle zu spielen. Was zählt, ist die Verbundenheit zum Ort und zu den Nachbarn. „Die Leute ziehen hier her, um zu bleiben“, sagt Martin Grieshaber.