Opfer vor sexuellem Missbrauch schützen Lüner Psychotherapeut: Auf erste Signale achten

Opfer vor sexuellem Missbrauch schützen: Auf erste Signale achten
Lesezeit

Schlagzeilen machte Ex-Vize-Bürgermeister Daniel Wolski. Er kam im Oktober 2023 in Untersuchungshaft, weil ihm sexueller Missbrauch Minderjähriger in 25 Fällen und Besitz kinderpornografischen Materials vorgeworfen wird. Politisch hat der Fall zum Rücktritt von seinen Ämtern und juristisch zu Ermittlungen geführt. Menschlich löste er nicht nur in Lünen Fassungslosigkeit und Entsetzen aus. Die Taten sollen sich innerhalb von fünf Jahren, zwischen 2018 und 2023, ereignet haben. Die Opfer waren 13 bis 17 Jahre alt. Es ging auch um Missbrauch gegen Geld.

Während Wolski im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht, redet niemand über die Opfer. Dr. Christian Lüdke ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und auf Traumathematik im Bereich sexualisierter Gewalt spezialisiert. Er sagt, das Thema sei sehr komplex. „Gerade jüngere Opfer müssen oft viele Anläufe nehmen, um Gehör zu finden und sich Hilfe zu holen.“ Doch die sei für sie existenziell. „Kinder brauchen immer die Hilfe von Erwachsenen und die Unterstützung ihrer Familien.“

Im Jahr 2022 sind in Lünen laut Polizeipressestelle 21 Fälle von sexuellem Missbrauch bekanntgeworden. Die Aufklärungsquote liege mit 75 Prozent „sehr hoch“. Im vergangenen Jahr ermittelte die Polizei bis November in 29 Fällen, mit einer Aufklärungsquote von 85 Prozent. Offizielle Zahlen aus Dezember sind noch nicht veröffentlicht.

Um dem Leid der Kinder entschieden entgegenzutreten, hat die auch für Lünen zuständige Polizei Dortmund im Juni 2022 eine Sonderkommission Kinderpornografie (Soko Kipo) eingerichtet. Sie vollstreckte im vergangenen Jahr 307 Durchsuchungsbeschlüsse, auch in Lünen. Darunter war im März die Wohnung von Daniel Wolski. Die Beamten stellten dort seinen Computer sicher, mit 40 Datenträgern kinder- und jugendpornografischen Materials sowie Chats mit mutmaßlichen Missbrauchsopfern.

Dass oft viel Zeit ins Land geht, bis die Not missbrauchter Kinder und Jugendlicher wahrgenommen wird, habe laut Christian Lüdke unterschiedliche Ursachen. „Häufig schämen sich Betroffene.“ Jungen stärker als Mädchen. Sie seien eher bereit, sich Hilfe zu holen. Vielfach dominiere die Angst „man glaubt mir nicht“ oder das Gefühl „selbst schuld zu sein“. Umso wichtiger sei es, dass Erwachsene auf Signale achteten. Wenn Kinder und Jugendliche Opfer werden, bedeute das Stress. Das führe oft zu verändertem Verhalten.

Veränderung ansprechen

Mädchen mit Teddy
Die Polizei hat eine bundesweite Kampagne "Missbrauch verhindern" aufgelegt. © Polizeiliche Kriminalprävention

Das kann sich darin äußern, dass sich Betroffene zurückziehen, nicht mehr reden, sich nicht mehr mit Freunden treffen. Oder dass sie aggressiv werden, über die Sprache mit Sarkasmus und Ironie reagieren, bis hin zu selbstverletzendem Verhalten, wie sich ritzen, schneiden, mit dem Feuerzeug verbrennen oder sich heißes Wasser über den Arm schütten. Christian Lüdke nennt Schlafstörungen und untypische Schmerzsymptomatik wie Bauchschmerzen, Reizdarm oder motorische Unruhe durch permanente Anspannung. Es gebe unterschiedliche Signale.

Wenn Eltern oder Lehrer Veränderungen bemerken, sollten sie keine Angst haben, das anzusprechen und eine sachliche Rückmeldung zu geben: „Du bist anders. Das fällt mir auf.“ Dabei sollten sie ohne Druck agieren. Häufig wehrten die Betroffenen ab. „Doch Erwachsene sollten nicht müde werden, zu zeigen, dass sie mitbekommen, wenn etwas in der Welt des Kindes nicht in Ordnung ist“, so Lüdke. Viele Opfer öffneten sich erst nach einiger Zeit. Sie brauchten dann Schutz und Ruhe, ohne Vorwürfe. Das zuversichtliche Gefühl: „Wir schaffen das gemeinsam.“ Dabei müssten Erwachsene das Risiko einschätzen, ob die Symptome noch eine Reaktion auf das außergewöhnliche Erleben seien oder ob sie therapeutisch behandelt werden müssten.

Wichtig seien Stabilität und stützende Gespräche, um den Stress zu verarbeiten. Sport könne für Erfolgserlebnisse sorgen. Kinder sollten wieder ihre eigene emotionale Identität erleben.

Anbahnung im Internet

Wie im Fall Wolski, spielen Dating- und Chatplattformen eine große Rolle. Pädophile Täter nutzten sie als Anbahnungsmöglichkeiten, wie auch soziale Medien und Chatfunktionen von Online-Videospielen, so die Polizeipressestelle. „Täter geben sich bei der Kontaktaufnahme häufig selbst als Kinder und Jugendliche aus.“ Diese Masche wird als Cyber-Grooming bezeichnet. Medienerziehung ist laut Christian Lüdke wichtig. Eltern sollten Vorbilder sein, aufklären, bei Kindern das menschliche Frühwarnsystem schärfen und kritisch bleiben.

Das Thema Cyber-Grooming ist auch Teil einer bundesweiten Kampagne „Missbrauch verhindern“ der Polizei. Darin geht es zudem um Aufklärung, um erste Anzeichen für einen Missbrauchsfall erkennen zu können. „Die Polizei wird beim ersten Bekanntwerden eines Verdachtsfalles umgehend tätig“, erklärt die Polizeipressestelle.

Bekomme man anonyme Hinweise, könne man sie an Institutionen weitergeben, sagt Christian Lüdke. Entsprechende Stellen wie Wildwasser, Beratungsstelle für Opfer sexueller Gewalt und Prävention, oder Zartbitter, Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt, wie auch das Bundesfamilienministerium, das ein Hilfe-Telefon bei sexuellem Missbrauch unter der Rufnummer 0800 22 55 530 anbietet, sind Ansprechpartner.