Die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD steht in den Startlöchern. Einige Wochen nach der Wahl hat sich das Bündnis auf zentrale Punkte der Politik in den nächsten vier Jahren geeinigt. Großer Streitpunkt - auch nach Beendigung der offiziellen Verhandlungen: der Mindestlohn. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: Ein Mindestlohn von 15 Euro sei bis 2026 „erreichbar“. Diese Formulierung wird von Schwarz und Rot jedoch unterschiedlich interpretiert. Die Sozialdemokraten wollen die Erhöhung unbedingt - notfalls per Gesetz. Die Union hält davon wenig. Die Diskussion hat derweil bereits begonnen.
Mit Sorge blicken die Landwirte Vitus Schulze Wethmar aus Lünen und Hubertus Bleckmann aus Selm auf diese Entwicklung. „Aber nicht, weil wir den Leuten weniger zahlen wollen“, betont Schulze Wethmar explizit. Vielmehr ginge es darum, den heimischen Obst- und Gemüseanbau für den Verbraucher bezahlbar zu halten. Schon jetzt bezahle er rund 60 Prozent seiner Ausgaben für Lohnkosten.
Hubertus Bleckmann sieht das ähnlich. „Mit jeder weiteren Lohnsteigerung wird‘s nicht günstiger“, meint der Landwirt aus Bork. Komme eine Erhöhung auch für ungelernte Saisonkräfte, steigen die Preise für Verbraucher - und weitere Betriebe werden schließen müssen. „Es funktioniert nicht mehr“, so Bleckmann. Generell sei die Branche in einer schwierigen Situation: „Die letzten drei bis vier Jahre waren landwirtschaftlich eine Katastrophe.“
Die Zahlen geben ihm recht. Rund 30 Prozent der Spargelbauern haben in den letzten zehn Jahren - seit Einführung des Mindestlohns - aufgegeben. Weitere werden folgen, so die Prophezeiung. Das Netzwerk der Spargel- und Beerenverbände e.V. fordert deshalb eine Einfrierung des Mindestlohns von 12,82 Euro für die Landwirtschaft.
Brutto gleich netto
Soweit will Schulze Wethmar nicht gehen. Es gehe ihm nicht um die ganzjährig Beschäftigten, sondern um ungelernte kurzfristig beschäftigte Feldarbeiter. Aktuell sind 32 Mitarbeiter bei dem Lüner Bio-Bauern angestellt. Viele davon sind nur für wenige Monate hier, um etwas Geld zu verdienen. „Die Saisonarbeitskräfte kommen seit Jahren, teilweise in zweiter Generation. Der Mindestlohn bildet die Basis. Dazu kommen Erfolgsprämien.“ Am Ende des Monats können dann 3.500 Euro netto rausspringen. „Durchaus auch mehr.“
In der Landwirtschaft werden viele Saisonarbeitskräfte als kurzfristig Beschäftigte eingestellt. Für diese Beschäftigungsverhältnisse fallen keine Sozialversicherungsbeiträge (Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung) an – weder für den Arbeitgeber noch für den Arbeitnehmer. Das bedeutet: Der Bruttolohn entspricht in der Regel dem Nettolohn, abgesehen von eventuell anfallender Lohnsteuer, die aber bei geringen Verdiensten oft entfällt oder sehr niedrig ist.
Der Arbeitgeber muss lediglich geringe Umlagen (z.B. für die Unfallversicherung) zahlen. Dadurch erhalten kurzfristig Beschäftigte – meist ungelernte Saisonkräfte – fast ihren vollen Bruttolohn ausgezahlt.

„Bei 70 bis 100 Stunden liege ich selbst nicht über dem Mindestlohn“
Eine Steigerung des Mindestlohns von 12,82 Euro auf 15 Euro für ungelernte Feldarbeiter bedeutet also deutlich höhere Preise für den Endverbraucher. Wie hoch genau, können beide Landwirte nicht beziffern. Das sei auch abhängig von der Erntemenge. Doch, in diesem Punkt herrscht große Einigkeit bei den Bauern, steige der Lohn für Saisonkräfte um 17 Prozent, werde der Gürtel enger für viele Landwirte.
„Bei 70 bis 100 Stunden Arbeitszeit in der Woche liege ich selbst nicht über dem Mindestlohn“, erklärt Hubertus Bleckmann. Die viele Arbeit störe ihn nicht, ein Landwirt übe sein Handwerk schließlich aus Überzeugung und mit viel Spaß aus. „Es muss aber Geld übrig bleiben, um den Betrieb weiterzuführen.“ Laufende Kosten müssen gedeckt werden, etwa wenn ein Traktor kaputtgeht. Dann bezahle man schnell 100.000 Euro.
„Existenzängste habe ich nicht, aber wenn die Lage schlimmer wird, muss ich den Obst- und Gemüseanbau unter Umständen reduzieren oder einstellen und neue Wege einschlagen“, meint Schulze Wethmar. Getreideanbau etwa brauche bei weitem nicht so viele Mitarbeiter und würde für den Lüner auch deutlich weniger Stress bedeuten. „Aber Obst und Gemüse anzubauen, alles wachsen zu sehen, das macht mir täglich richtig Freude.“
Die Bio-Landwirtschaft sei von der Krise besonders betroffen. Zwar werde man jedes Jahr effizienter, etwa durch neue Maschinen und Feld-Robotik, jedoch müsse - im Gegensatz zur konventionellen Landwirtschaft - Unkraut per Handarbeit entfernt werden. „Wir haben Handarbeitsstunden von 300 bis 400 Stunden pro Hektar“, so Schulze Wethmar.

Wenn nicht in Deutschland, dann in Südeuropa
Stellen immer mehr Landwirte ihren Betrieb ein, so wird immer mehr im Ausland produziert. Die Bauern konkurrieren im europäischen und internationalen Wettbewerb. Schon jetzt liegt der Selbstversorgungsgrad in der Bundesrepublik für Gemüse bei nur 37 Prozent. Der Anteil von Obst ist noch weit geringer. Nur 20 Prozent des deutschen Verbrauchs können auch in Deutschland produziert werden. Der Großteil wird aus dem Ausland importiert.
Eine Frage, die Schulze Wethmar intensiv beschäftigt: „Die Frage ist doch: Wollen wir heimischen Obst- und Gemüseanbau haben?“ Die Auslagerung der Produktion ins Ausland ist zwar günstiger, steigert aber auch Abhängigkeiten. „Es geht um Ernährungssicherheit“, sagt der Landwirt.
Die meisten Saisonarbeiter kommen laut Deutschem Bauernverband aus Rumänien, Polen und Bulgarien. Blickt man auf die Mindestlöhne in der EU, liegt der Stundenlohn in diesen Ländern zwischen 3,32 Euro und 7,08 Euro - immer noch deutlich geringer als aktuell in Deutschland.
Sollte mehr Anbau in Südeuropa stattfinden, befürchtet Bleckmann Lohndumping bei den ungelernten Feldarbeitern: „Wenn sie im Discounter Erdbeeren für 99 Cent pro Packung kaufen können, dann stimmt doch etwas nicht. Irgendjemand in der Kette kann dann kaum Geld für seine Arbeit bekommen.“
Laut Netzwerk der Spargel- und Beerenverbände seien die Produktionskosten bezüglich des Mindestlohns um ein Drittel günstiger. „In Griechenland ist die Produktion mit 44 Prozent der Produktionskosten um mehr als die Hälfte günstiger.“ Gleichzeitig gebe es in Deutschland mehr Auflagen bezüglich der Produktionsstandards - Stichwort Bürokratie.
Die Höfe von Vitus Schulze Wethmar und Hubertus Bleckmann sind von einer möglichen Schließung nicht betroffen. Doch die Sorgen vor noch mehr Preiskampf, noch mehr Kosten und noch mehr Bürokratie sind beiden deutlich anzumerken. „Wir wollen, aber wir müssen auch können“, erklärt Bleckmann.