Rätselhafte Riesenraupe zwischen Dortmund und Werne unterwegs „Wer sie angreift, sieht die Kobra“

Rätselhafte Riesenraupe unterwegs: „Wer sie angreift, sieht die Cobra“
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Das Tempo ist erstaunlich. Wer glaubt, dass Kriechen eine langsame, beschwerliche Form der Fortbewegung sei, hat dieses grau-braune Etwas noch nicht gesehen. Es arbeitet sich trotz seiner Körperfülle scheinbar mühelos voran: über die feuchte Erde des Grabs, die steinerne Einfassung, den breiten Kiesweg und schließlich durch das knöchelhohe Gras, in dem es verschwindet. Wie sich die Kolben eines Motors im Zylinder auf und ab bewegen, heben und senken sich die einzelnen Glieder des langgezogenen, braun-grauen Körpers und schieben ihn in ununterbrochenen Wellen nach vorne. So schnell, dass kaum Zeit bleibt zum Fotografieren. Da ist die unerwartete Erscheinung auf dem Friedhof in Dortmund-Wischlingen auch schon wieder weg.

Wenige Tage später auf einer feuchten Streuobstwiese im Städtedreieck von Lünen, Selm und Werne: Zwischen dem Fallobst am Rand der Weide bahnt sich genau so ein daumendickes Tier, das länger als ein Mittelfinger ist, unaufhaltsam seinen Weg zwischen den Äpfeln in Richtung Graben. Da, wo die feste Grasnarbe locker und der Boden weich wird, ist es plötzlich nicht mehr auszumachen. Der seltsame Sprinter scheint mit dem grau-braunen Untergrund eins geworden zu sein. Dass er sich dort irgendwo tatsächlich eingegraben hat, werden Experten später sagen: Leute, die bestens Bescheid wissen, worum es sich bei dem außergewöhnlichen Wesen handelt, das in diesen ersten Septembertagen mit etwas Glück zu beobachten ist: keine Nacktschnecke (dafür viel zu schnell) und keine Schlange (dafür zu klein), sondern eine Riesenraupe mit besonderer Finesse.

Klaus-Bernhard Kühnapfel aus Kamen kennt sie. Der Diplom-Biologe ist Schmetterlingsexperte beim Naturschutzbund (Nabu) im Kreis Unna. Als solcher interessiert er sich nicht nur für die flatterhaften Schönheiten, die seit jeher Menschen faszinieren, sondern auch für ihre oft übersehenen und als eklig kategorisierten Larven. Die für Laien rätselhafte Riesenraupe aus Wischlingen und Langern sei die des Mittleren Weinschwärmers, eines Nachtfalters, sagt er. Nicht nur Kühnapfel findet sie faszinierend: wegen ihrer imposanten Größe, aber auch wegen eines ungewöhnlichen Verhaltens.

Klaus-Bernhard Kühnapfel aus Kamen hat den Mittleren Weinschwärmer fotografiert: die Schönheitskönigin unter den heimischen Nachtfaltern. Der fertige Schmetterling ist etwas kleiner als die rätselhafte Raupe, die er mal war.
Klaus-Bernhard Kühnapfel aus Kamen hat den Mittleren Weinschwärmer fotografiert: die Schönheitskönigin unter den heimischen Nachtfaltern. Der fertige Schmetterling ist etwas kleiner als die rätselhafte Raupe, die er mal war. © Klaus-Bernhard Kühnapfel

Nackt, aber nicht schutzlos

Ein weiterer Fan der großen Raupe Nimmersatt ist Diplom-Landschaftsökologe Robert Boczki aus Münster, der sowohl im Münsterland als auch im Ruhrgebiet forscht. Eigentlich, sagt er, sei die Riesenlarve keineswegs immer so schnell unterwegs, wie es bei den beiden beobachteten Exemplaren der Fall war. Vielmehr vermeide sie jeden unnötigen Ortswechsel, wenn sie erst einmal ihre Futterpflanze erreicht habe. Deshalb gilt die Riesenraupe auch als weitgehend unbekannt, obwohl sie hier heimisch ist.

Trotz seines Namens schwärmt der Weinschwärmer in erster Linie für das Weidenröschen. Diese hochwachsende Wildblume, die in Ziergärten oft als Unkraut verunglimpft wird, hat er zum Fressen gern. Sie gehört zu den wenigen Pflanzen, die auch im Spätsommer blühen und damit Bienen zu dieser Jahreszeit noch Nektar liefern. Die ansonsten alles niederraspelnden Schnecken meiden sie, weil die feinen Härchen am Stängel Säure abscheiden. Die Raupe stört das indes kein bisschen. Sie liebt das Weidenröschen. Und falls das gerade mal nicht zur Verfügung steht, dann labt sie sich auch gern an Fuchsien. Von seinen Leib- und Magenspeisen wende sich die Raupe des Weinschwärmers nur einmal ab, sagt Robert Boczki, der an der Universität Münster angehende Biologielehrerinnen und -lehrer unterrichtet: „Dann nämlich, wenn sie auf dem Weg ist, um sich zu verpuppen.“ Stolze acht Zentimeter misst sie zu diesem Zeitpunkt. Das Ei, aus dem sie geschlüpft ist, war nicht einmal zwei Millimeter groß: nahezu eine Verfünfzigfachung des Körpers innerhalb von gerade einmal vier bis fünf Wochen.

Für Boczki ist klar: Sowohl die Raupe auf dem Friedhof als auch die auf der Weide hatten es eilig, weil sie gerade dem neuen Lebensabschnitt entgegeneilten und sich kurz vor dieser grandiosen Verwandlung zum Schmetterling nicht noch fressen lassen wollten. Jede von ihnen wäre für Vögel, Igel, Raubkäfer und Co. ein fetter Happen. So leicht kommen ihre Feinde aber nicht zum Zuge. Zwar erscheinen die Raupen als nackt und schutzlos, so ganz ohne Fell und Panzer. Boczki kennt aber die raffinierte Verteidigungstechnik der XXL-Larven.

„Wer die Raupe angreift, sieht die Kobra“, sagt Boczki. Und das ist nicht nur so ein Spruch: Fühlt er sich bedrängt, richtet sich der vermeidlich tumbe Riesenwurm wie die Giftnatter vorne auf, zieht seinen - im Vergleich zum restlichen Körper kleinen - Kopf ein und pumpt sein vorderes Viertel auf das Doppelte auf. Das allein muss den Aggressor schon innehalten lassen. Die Sache mit den Augen macht es aber noch furchteinflößender.

Wie jede andere Raupe hat auch die Raupe des Weinschwärmers zwölf Augen: sechs auf jeder Seite des Kopfes. Es handelt sich um sogenannte Punktaugen. Fünf davon sind im Halbkreis angeordnet, das sechste in der Mitte des Halbkreises. Sie taugen - anders als die Facettenaugen des späteren Schmetterlings - kaum dazu, gut zu sehen. Und sie hinterlassen auch bei Feinden keinen großen Eindruck - anders als die riesigen Scheinaugen.

Was bei der vorbeieilenden Raupe nur wie jeweils zwei dunkle Flecken auf jeder Seite aussah, erweist sich bei dem aufgerichteten, aufgeblähten Tier als riesiges, schwarzweißes Augenpaar, versichert Boczki. Ein Trick, den auch die Kobra anwendet. Während diese im Fall der Fälle jedoch wirklich Gift einsetzen können, ist die in Schlangenpose aufgerichtete Raupe völlig ungefährlich. Dieses wie ein Stachel aufgerichtetes Körperende lässt aber etwas anderes vermuten.

Falter in Pink und Oliv

Die beiden Raupen in Wischlingen und Langern haben es geschafft. Sie konnten ohne Angriff im Boden verschwinden und mit der wunderbaren Verwandlung beginnen: ein kompliziertes Prozedere, bei dem sich die Raupe in einen Kokon einspinnt, sich also verpuppt. In dieser körpereigenen Umkleidekabine zersetzt sie sich zu einem großen Teil und entsteht neu - als einer der schönsten Nachtfalter Deutschlands. Bevor er die olivgrünen, mit pinkfarbenen Streifen gesäumten Flügel das erste Mal ausbreitet, mit denen er wie ein Kolibri in der Luft wird stehen können, dauert es aber noch. Erst im Mai nächsten Jahres beginnt der Kreislauf des Lebens aufs Neue: an Waldrändern, Bachläufen, auf Weiden und auf Friedhöfen.

„Hoffentlich noch lange“, sagt Robert Boczki, aber in seiner Stimme schwingt Zweifel mit. Kein Wunder: Innerhalb von 27 Jahren ist die weltweite Biomasse aus Insekten um 76 Prozent zurückgegangen, wie die Umweltschutzorganisation WWF vorrechnet. „Und jedes Jahr verlieren wir mindestens weitere 2,5 Prozent.“

Schmetterlinge, die es schon vor den Dinosauriern gab, gehören zu den am meisten bedrohten Arten. Dieses Artensterben durch intensive Landwirtschaft, Pestizideinsatz, Klimakrise und anhaltende Flächenversiegelung findet der Ökologe aus Münster „beschämend“. Der Mittlere Weinschwärmer mit seinen rätselhaften Riesenraupen mag heute noch als gesichert gelten, sagt er. Dass einmal der Kleine Fuchs verschwinden würde, der in den 1970er- und 80er-Jahren noch ein Allerweltsschmetterling war, hätte sich aber auch niemand vorstellen können.

Zwei Schmetterlinge der Sorte «Kleiner Fuchs» sitzen auf der Blüte eines Schmetterlingsbaumes. Seit 15 Jahren mache sich der einst überall vorkommende Schmetterling zunehmend rar, sagt der Diplomökologe Robert Boczki aus Münster.
Zwei Schmetterlinge der Sorte "Kleiner Fuchs" sitzen auf der Blüte eines Schmetterlingsbaumes. Seit 15 Jahren mache sich der einst überall vorkommende Schmetterling zunehmend rar, sagt der Diplomökologe Robert Boczki aus Münster. © picture alliance / dpa

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 9. September 2024.