Körperverletzung – an sich ein Routine-Einsatz für die Lüner Polizei. Doch es stellt sich heraus, dass an diesem Fall im Frühjahr 2021 nichts alltäglich ist. Vielmehr endet er mit einer verletzten 17-Jährigen, einem Beamten auf der Anklagebank beim Prozessauftakt im Amtsgericht in Lünen am 7. März und zwei Versionen zu einem Thema.
Der Vorwurf, als Amtsträger jemanden misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben, wiegt schwer, erzeugt automatisch ein Gefühl der Beklemmung. Das, was umgangssprachlich auch als Polizeigewalt immer wieder auftaucht. Und genau das wird dem 62-Jährigen, nunmehr pensionierten Beamten zur Last gelegt.
Am 3. Februar 2021 wird die Polizei zu einem Haus an der Adolf-Damaschke-Straße in Lünen-Süd gerufen. Es geht um einen handgreiflichen Streit zwischen dem Bewohner und seiner Ex-Freundin – der 17-Jährigen. Die Beamten vor Ort entscheiden, nachdem es offenbar turbulent wird, sie mitzunehmen. Laut Anklage leistete die Jugendliche Widerstand, wollte an der Wache nicht aus dem Streifenwagen aussteigen und spuckte den späteren Angeklagten, der seine Kollegen unterstützen und sie in Empfang nehmen wollte, mehrfach an. Er versetzte ihr daraufhin zwei sogenannte Blendschläge – die, so die juristische Definition, über die überraschende Wirkung und Schmerzzufügung den jeweiligen Gegner kontrollieren sollen und die dazu dienen sollen, die Situation wieder in den Griff zu bekommen.
In Folge dieser Schläge, so zumindest der Vorwurf, erlitt der Teenager einen Bruch des rechten knöchernen Augenhöhlenbodens. Die heute 21-Jährige wirft dem 62-Jährigen nun vor, deshalb auf einem Auge komplett und auf dem anderen nahezu blind zu sein.
Körperverletzung im Amt wird dem pensionierten Beamten jetzt in einem Prozess vor dem Lüner Schöffengericht vorgeworfen. Ein Vorwurf, den er so nicht stehenlassen will. Er spricht von einer „außergewöhnlichen Situation“ und einem „sehr intensiven Widerstand“, von einer Mischung aus Nothilfe für seinen Kollegen und Notwehr, was ihn selbst betrifft.
An dem Tag sei er als Dienstgruppenleiter im Büro gewesen und habe dann den Funkspruch der Kollegen mit Bitte um Unterstützung gehört. Der Funkspruch sei laut, hektisch und sehr intensiv gewesen. Und für ihn habe diese Kombination eine Gefahrensituation zum Ausdruck gebracht – die Kollegen seien bereits angegriffen worden, würden es gerade oder der Angriff stehe kurz bevor. Mit einer Beamtin sei er rausgelaufen und in dem Moment sei der Streifenwagen gekommen – mit Blaulicht und Martinshorn. Er habe die Tür geöffnet und gesehen, wie sein Kollege mit der damals etwa 115 Kilo schweren Jugendlichen gekämpft habe. Der Beamte im Fahrzeug habe halb auf dem Sitz gelegen, habe versucht, den Kopf des Teenagers zu fixieren. Die junge Frau habe sich mit allem Gewicht dagegengestemmt. Er selbst habe in der Lage eingreifen müssen, um die Verletzung des Kollegen zu verhindern.

Nunmehr habe sich ihre Wut gegen ihn gerichtet. Sie habe in seine Richtung getreten, habe mit dem Kopf gestoßen und ihn fortwährend angespuckt – während der Hochphase der Corona-Pandemie. Und somit habe auch seine Verletzung direkt bevorgestanden. Um das zu verhindern und den Widerstand zu brechen, habe er ihr den ersten Schlag versetzt. Der habe aber nichts bewirkt. Also habe es einen zweiten gegeben. Im Übrigen nicht mit voll eingesetzter Kraft. Aber selbst danach habe sie noch Widerstand geleistet.
Er habe nicht gewusst, dass sie bereits zuvor Widerstand geleistet habe, habe nicht gesehen, dass sie mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt gewesen sei und habe auch keine Kenntnis darüber gehabt, dass sie 17 Jahre alt gewesen sei. Den Funkspruch, dass es sich um eine Minderjährige gehandelt habe, habe er nicht gehört.
Generell: „Bevor ich verletzt werde, muss ich mich…“ Ein Satz, den er nicht vollendet, bei dem aber offensichtlich ist, wie er enden würde. Denn, auf einer Skala von 1 bis 10 sei ein Widerstand mit Schusswaffe eine 10, einer mit Messer eine 9, mit einem Baseballschläger eine 8. Der Widerstand des Teenagers sei eine 7 gewesen.
Die damaligen Kollegen des Angeklagten schildern im Zeugenstand, was sich ihrer Erinnerung nach vor den Blendschlägen ereignete. Eine Beamtin erinnert, wie sie gerade mit der 17-Jährigen und deren Vater die Treppe heruntergegangen seien, um den Sachverhalt draußen zu klären, als die junge Frau plötzlich laut und gewalttätig geworden sei und sie geschubst habe. Sie hätten sie daraufhin zu Boden gebracht und versucht, sie zu beruhigen. Vergeblich. Sie habe geschrien, habe um sich getreten. Letztlich hätten sie sie fixieren und regelrecht zum Streifenwagen schleifen müssen. Im Fahrzeug sei es weitergegangen. Schreie, Bewegungen hin und her, Spucken. Sie habe Unterstützung angefordert. „Ich habe so etwas noch nie erlebt.“

Ihr Kollege, der mit der Jugendlichen hinten saß, bestätigt ihre Angaben und erklärt, dass er nicht wisse, was die 17-Jährige ohne die Blendschläge noch gemacht hätte – auch wenn er nicht glaube, dass er selbst zu dieser Maßnahme gegriffen hätte. Aber das wisse er nicht. Er wisse ja nicht, wie es draußen vor dem Fahrzeug gewesen sei.
Tonmitschnitte der Funksprüche werden im Gerichtssaal abgespielt. Und tatsächlich übertönen die Schreie der 17-Jährigen immer wieder die Worte der Beamtin und es ist schwierig, das Gesagte überhaupt zu verstehen. Es ist von Stress die Rede, von Problemen mit einer weiblichen Person und davon, dass sie Hilfe brauchen würden.
Die junge Frau selbst sieht sich als Opfer und zwar in jeder Hinsicht – bereits beim Disput mit ihrem Ex-Freund. In ihrer Version griff die Beamtin sie plötzlich auf der Treppe an. Die Polizisten hätten versucht, ihr eine Art Knebel in den Hals zu schieben und hätten sie auf die Straße gezogen. Sie hätten sie als „fette Kuh“ beschimpft und hätten gedroht, ihr in den Kopf zu schießen, wenn sie nicht aufhöre zu weinen. Im Wagen sei ihr Kopf gegen die Scheibe gepresst und gestoßen worden. „Es ging um mein Leben.“ Sie habe lediglich geweint – wie laut, das wisse sie nicht. Sie habe sich nicht gewehrt, habe nicht getreten und nicht gespuckt. Und sehr wohl hätten die Beamten ihr Alter gekannt. Auch steht in ihrer Schilderung plötzlich Ausländerfeindlichkeit im Raum.
Der Staatsanwalt hakt nach und fragt, wie sie es sich erkläre, dass sich die Polizei „aus heiterem Himmel“ so verhalten habe. Sie pariert: „Das ist mir immer noch ein Rätsel.“ Das frage sie sich auch. „Ich habe kein Leben mehr.“ Auf dem rechten Auge sei sie komplett erblindet, das linke Auge sei auch massiv geschädigt. „Ich bin ein kompletter Pflegefall geworden.“ Sie sei sich sicher, dass das die Folge des Vorfalls sei. Und auch ihr Vater ist überzeugt: „Sie hatte keine Schuld.“
Ein weiterer Polizeibeamter, der an dem Einsatz beteiligt war, sieht es im Zeugenstand anders: Wirklich friedlich sei die 17-Jährige zu keinem Zeitpunkt gewesen und von Knebel, Schuss-Drohung oder Ausländerfeindlichkeit könne keine Rede sein.
Der Rechtsmediziner kommt in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass der Bruch des Augenhöhlenbodens typische und wahrscheinlichste Folge eines Schlags mit Faust oder Ellenbogen sei. Jedoch sei es auch möglich, dass die Verletzung durch Schlagen auf die Scheibe oder bei einer Bewegung und dem Auftreffen mit Wucht auf B-Säule oder Fenster entstanden sei. Der Augenarzt wiederum betont, dass es keine medizinischen Gründe für die Erblindung gebe. Es sei objektiv nicht zu belegen, dass die junge Frau erblindet sei und so sei es auch nicht feststellbar, dass sie infolge der Blendschläge auf dem Auge erblindet sei.
Demnächst wird der Prozess mit der Befragung weiterer Zeugen fortgesetzt.