Warum haben die Ruhr Nachrichten dann geklagt?Weil alleine die Zahl nicht ausreicht, um den Vergleich auch einordnen und bewerten zu können. Das Gericht sah das ähnlich und hat der Redaktion schließlich alle Unterlagen zugestanden: Den Vergleichstext sowie die drei Klageschriften. Die Stadt hätte Beschwerde einlegen können gegen diese Entscheidung. Hat sie aber nicht. Stattdessen hat es am Donnerstag ein knapp zweistündiges Hintergrundgespräch im Rathaus gegeben.
Jetzt kann also offen geredet werden?Definitiv nicht. Das zeigt schon die Teilnehmerliste des Gesprächs. Anwesend waren neben den Ruhr Nachrichten und dem WDR nämlich sowohl Bürgermeister, Kämmerer und städtische Rechtsabteilung als auch zwei Anwälte der Düsseldorfer Kanzlei Kapellmann, die die Stadt in Derivate-Belangen gegen die Bank und gegen uns vertreten hatte. Als die WDR-Kollegen ein Interview mit dem Bürgermeister machen wollten, lehnte der ab. Vor der Kamera solle sicherheitshalber nur Pressesprecher Benedikt Spangardt sprechen. Eine vorbereitete Erklärung las Rechtsanwalt Thomas Jelitte nur vor - anstatt frei zu sprechen. „Jedes Wort muss abgewogen werden“, sagte Spangardt.
Was gibt es trotzdem Neues?Vieles, was aus den Unterlagen hervorgeht. Im Vergleich ist festgehalten, dass die Erste Abwicklungsanstalt (EAA/Rechtsnachfolgerin der mittlerweile zerschlagenen WestLB) der Stadt 23 Millionen Euro zahlt. Genauer: Die 23 Millionen werden mit dem Geld verrechnet, das die Stadt der EAA noch schuldet. Die Stadt hatte nämlich aufgehört, für die beklagten Swap-Geschäfte zu zahlen. Dieser Rückstand belief sich auf knapp 43 Millionen Euro am Ende. Dazu kommen rund 14 Millionen für die Auflösung der drei noch übrigen riskanten Swap-Geschäfte. In der Bilanz bleiben die vielzitierten 34 Millionen Euro übrig.
Ist denn bekannt, wie teuer es geworden wäre, wenn die Stadt weitergeklagt und vor Gericht verloren hätte?Jein. Eine solche Zahl sei nicht konkret ausgerechnet worden, hieß es. Eine solche Zahl nannte die Stadt auch am Donnerstag auf mehrfache Nachfragen nicht. Klar ist: Zu den Zahlungsrückständen von 43 Millionen wären dann noch Zinszahlungen hinzugekommen. „Das Risiko lag noch im einstelligen Millionenbereich“, sagte Dominik Skrinjar, Referent Finanzen und Beteiligungen bei der Stadt. Nimmt man dafür also etwa 9 Millionen Euro an, läge ein möglicher Gesamtschaden bei rund 66 Millionen Euro - bestehend aus den 43 Millionen Rückständen, den 9 Millionen Euro Zinsen und den 14 Millionen für die Auflösung der riskanten Geschäfte. Eine solche Zahl sei aber auch den Ratsmitgliedern nicht genannt worden, bevor in dem Gremium über den Vergleich abgestimmt wurde, sagt Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns. Das stimme so nicht, sagte Grünen-Ratsmitglied Eckhard Kneisel am Nachmittag auf Anfrage. Es habe die Nachfrage nach konkreten Zahlen gegeben, die sei auch beantwortet worden mit einer Zahl. Welche Zahl genannt wurde, sagt Kneisel nicht - die Sitzung war ja nicht öffentlich.
MarktwerteViele Swap-Geschäfte laufen nochAus dem Anhang des Vergleichs geht hervor, dass die Stadt zwischen 1999 und 2011 64 verschiedene Swap-Geschäfte getätigt hat. Mit den drei jetzt aufgelösten sind alle hochriskanten Geschäfte laut Kämmerer Uwe Quitter jetzt erledigt. Der aktuelle negative Marktwert der noch laufenden Geschäfte beträgt zum aktuellen Zeitpunkt aber immer noch minus 9,7 Millionen Euro. Wichtig ist: Die Geschäfte laufen ja noch weiter und werden eben nicht jetzt aufgelöst. Ob sie am Ende noch einmal teuer werden, hängt von der Marktentwicklung ab.
Was sagt die Verwaltungsspitze dazu, dass die Unterlagen jetzt öffentlich wurden?„Wir wehren uns aktiv gegen die Vorstellung, die Verwaltung würde mauern. Die Verwaltung ist im Gegenteil sehr an Transparenz interessiert.“ Mit diesen Worten leitete Sprecher Spangardt das Gespräch schon ein. „Natürlich“, sagte Bürgermeister Kleine-Frauns später, wäre der Verwaltung ein Vergleich ohne Verschwiegenheitsklausel auch lieber gewesen. „Es geht um Steuergelder, einen Riesenschaden. Da haben wir das Bedürfnis, den Bürgern zu sagen, was passiert ist.“
Was stand denn genau in der Verschwiegenheitsvereinbarung?Dass keine der Parteien über die Inhalte der Vereinbarung und das Zustandekommen sprechen darf. Das gilt aber nicht, „soweit eine der Parteien hierzu gesetzlich oder aufgrund gerichtlicher Anordnung verpflichtet ist“ - wie also in diesem Falle. Weder Stadt noch EAA dürfen laut der Vereinbarung im Übrigen Äußerungen treffen, „die für das Ansehen der jeweils anderen Partei nachteilig sein könnten“. Die Formulierungen seien so üblich, sagte Kapellmann-Rechtsanwalt Michael Bosse. Und weiter: „Der Schwerpunkt der Bemühungen zur Verschwiegenheit ging nicht von der Stadt Lünen aus.“
Was sagt die EAA dazu, dass die Inhalte jetzt bekannt sind?Dass sie 52 Auseinandersetzungen um kommunale Swap-Geschäfte mit Vergleichen beendet hat. Und dass bislang keine einzige Vereinbarung veröffentlicht wurde. Insofern ist der Lüner Fall ein Novum. Ansonsten weist Marie-Luise Hoffmann, Sprecherin der EAA, per E-Mail noch einmal darauf hin, dass Vertraulichkeit im Bankgeschäft üblich und für die EAA nötig sei, „um Belastungen ihrer öffentlichen Eigentümer zu vermeiden“. Die EAA hatte die Verschwiegenheit bisher auch damit begründet, dass eine Veröffentlichung der Vereinbarung negative Folgen für bereits abgeschlossene oder künftige Vergleiche haben könnte. Auf die Nachfrage nach diesen Befürchtungen antwortete Hoffmann nicht.
Ist denn mittlerweile mehr aus der haftungsrechtlichen Prüfung der Derivate-Vorgänge bekannt?Ja. Zwar durfte niemand bisher in die Unterlagen gucken - personenbezogene Daten -, Rechtsanwalt Bosse gab aber einen Überblick über die Ergebnisse. Demnach haben die Anwälte ausschließlich zwischen 2007 und 2010 zwei Pflichtverstöße festgestellt, untersucht wurden die Handlungen vom ehemaligen Bürgermeister Hans Wilhelm Stodollick und dem ehemaligen Kämmerer Hans-Georg Schlienkamp. Die Verstöße:Es gab keinen Ratsbeschluss, als die WestLB nach 2007 begann, die hochriskanten Derivat-Geschäfte zu tätigen. „Das war objektiv pflichtwidrig“, sagt Bosse, Geschäfte mit so hohem Volumen seien keine Geschäfte der laufenden Verwaltung.Es gab einen Verstoß gegen das „Konnexitätsprinzip“. Heißt: Es gab keinen Zusammenhang mehr zwischen den Swap-Geschäften, bei denen beispielsweise Zinssätze und Zinszahlungen getauscht werden, und den zugrundeliegenden Darlehen.Trotzdem war das Ergebnis der Untersuchung, dass daraus keine Schadenersatzansprüche resultieren. Warum?„Dafür müssten die Verstöße grob fahrlässig oder vorsätzlich sein“, sagte Bosse, „das haben wir bei den Verstößen nicht feststellen können.“
Was sagen die Betroffenen zu diesem Vorwurf?Schlienkamp sagt auf Anfrage, dass Kreditgeschäfte zu der Zeit immer als Geschäft der laufenden Verwaltung behandelt worden. „Das geht in der Praxis auch nicht anders, weil man da vieles manchmal innerhalb einer halben Stunde regeln muss.“ Hätte es damals einen Hinweis gegeben, hätte er auch anders gehandelt. Er habe außerdem immer darauf geachtet, „dass wir diese Konnexität beibehalten. Es muss etwas durchgeflutscht sein, was ich nicht kenne.“ Es sei offenbar ein Fehler passiert.Stodollick war am Donnerstag zunächst nicht zu erreichen.
Waren die hochriskanten Swap-Geschäfte denn rechtlich in Ordnung?Aus heutiger Sichtweise nicht, sagt Bosse. Seit einem Erlass von 2012 sei es Kommunen auch nicht mehr erlaubt, solche riskanten Zinsoptimierungsgeschäfte im Portfolio zu haben. So hatte auch die Stadt in ihren Klagen gegen die EAA argumentiert. Die Stadt hat die EAA drei Mal wegen jeweils verschiedener Swap-Geschäfte verklagt. Die Klageschriften sind zwischen 24 und 48 Seiten lang, die Klagen datieren von 2011, 2012, 2013. Die Stadt macht darin im Prinzip deutlich, wie sie ihrer Meinung nach von der damligen WestLB hinters Licht geführt wurde - und trifft dabei deutliche Aussagen: Die WestLB habe in der Beratung nicht auf den „hoch spekulativen Charakter“ der Geschäfte hingewiesen, „die nichts anderes als Wetten (...) darstellen“, heißt es etwa gleich zu Beginn der Begründung in der Klage von 2013. Die Stadt bemängelt auch, dass die WestLB nicht nur Beraterin der Stadt war, sondern auch Wettpartnerin. Heißt: Gewinnt die Stadt, verliert die Bank. Das sei ein Interessenswiderstreit. Außerdem habe die Bank nicht auf den sogenannten „anfänglichen negativen Marktwert“ hingewiesen. Liegt dieser vor, sei es im Prinzip so, als würde Sebastian Vettel in einem Rennen mit zeitlicher Verzögerung starten - und man würde trotzdem auf ihn wetten. Die Schuld dafür sieht die Stadt alleine bei der WestLB. Wichtig ist: Diese Aussagen spiegeln alleine die Sichtweise der Stadt wider - die Erwiederungen der EAA dazu liegen nicht vor. Der ehemalige Investmentbanker Rainer Voss hatte im Gespräch mit dieser Redaktion zuletzt deutlich gemacht, dass auch die Kämmerer der Gemeinden die Verantwortung hätten,
die angebotenen Geschäfte auch zu prüfen. Nur: Die meisten Kämmerer hätten die hochkomplexen Geschäfte gar nicht verstanden.
Wie sieht der Vergleich im Original aus?<div id="DV-viewer-5030702-Vergleich-der-Stadt-Lünen-mit-der-EAA" class="DC-embed DC-embed-document DV-container"></div><script src="//assets.documentcloud.org/viewer/loader.js"></script><script> DV.load("https://www.documentcloud.org/documents/5030702-Vergleich-der-Stadt-Lünen-mit-der-EAA.js", { responsive: true, container: "#DV-viewer-5030702-Vergleich-der-Stadt-Lünen-mit-der-EAA" });</script><noscript> <a href="https://assets.documentcloud.org/documents/5030702/Vergleich-der-Stadt-Lünen-mit-der-EAA.pdf">Vergleich der Stadt Lünen mit der EAA (PDF)</a> <br /> <a href="https://assets.documentcloud.org/documents/5030702/Vergleich-der-Stadt-Lünen-mit-der-EAA.txt">Vergleich der Stadt Lünen mit der EAA (Text)</a></noscript>