Dr. Thomas Roddey ist seit 2012 Pfarrer und Leiter des pastoralen Raums Lünen. Er leitet dort die Sonntagsgottesdienste, führt Taufen, Trauungen und Beerdigungen durch und bereitet junge Menschen auf ihre Firmung und Kommunion vor. Außerdem ist er Seelsorger der Gemeinde. Seit dem 1. April ist er auch nebenamtlich als Polizeiseelsorger tätig. Wir haben ihn kurz vor Ostern getroffen und ihn zu seiner neuen Aufgabe befragt sowie zur Glaubenskrise in Deutschland, zu seinen Erfahrungen als Seelsorger und, ob seine Osterbotschaft genauso politisch ausfällt wie üblicherweise die des Papstes.
Herr Roddey, die Mitgliederzahlen der Kirchen in Deutschland sinken, es gehen weniger Menschen zu den Gottesdiensten – wie ist der Stand in Lünen?
Schön ist, dass nach der Corona-Zeit wieder mehr Menschen die Kirchen besuchen, aber insgesamt kommen nur vier Prozent der Katholiken in die Sonntagsgottesdienste. Was mich zudem erschrocken hat in diesem Jahr, ist, dass unsere Beerdigungszahlen rückläufig sind, obwohl unsere Gesellschaft immer älter wird und die Zahl der Todesfälle steigt. Nur 37 Prozent der Katholiken wurden im vergangenen Jahr kirchlich beerdigt. Was die anderen zwei Drittel gemacht haben, wissen wir nicht.
Ich glaube nicht mehr, dass es noch viele blühende Gemeinden geben wird. Diejenigen, die sich in den vergangenen 30 Jahren engagiert haben, Pfarrfeste auf die Beine gestellt haben, sind jetzt zu alt. Sie wollen, aber sie können nicht mehr und es kommen nicht genug Junge nach.
Es wird sich bald einiges ändern. Das Erzbistum Paderborn, zu dem wir gehören, hat vor Kurzem eine Strukturreform beschlossen, eine vehemente, damit sie viele Jahre halten kann. Die pastoralen Räume müssen zusammengelegt werden, weil das nötige kirchliche Personal weniger wird und ebenso die Nachfrage der Gemeindemitglieder sinkt. Wir werden nicht mehr alles überall anbieten können. Wir mussten in den vergangenen Jahren schon schmerzlich Gemeinden zusammenlegen. Aus den 88 pastoralen Räumen im Erzbistum Paderborn werden 25. Ob Lünen dabei zum Kreis Unna gerechnet wird oder zu Dortmund, soll sich innerhalb dieses Jahres erst klären.
Es wird weniger aktive Kirchen geben, die Wege werden weiter, das ist unausweichlich. Das wird, gerade hier im Ruhrgebiet, für die Menschen eine Umstellung. Vor allem für Menschen, die nicht sehr mobil sind, wird das ein Problem. Auch meine eigene Zukunft ist im Moment ein bisschen ungewiss. Möglicherweise bin ich in zwei, drei Jahren nicht mehr Pfarrer von Lünen, sondern Mitarbeiter eines größeren Gebiets.

Wie wird es der Kirche in Zukunft in Deutschland ergehen?
Ich glaube, dass wir als Kirche in Zukunft mehr einen exemplarischen Charakter haben. Das heißt, wir werden eine Minderheit sein. Aber wir werden trotzdem noch Impulse in die Gesellschaft hineingeben. Christen sind einfach wichtig für die Gesellschaft, weil sie noch mal ein anderes Denkmuster haben. Es geht uns nicht um Profit, sondern um Nächstenliebe. Am Anfang waren es auch nur ganz wenige, wenn man in die Bibel schaut. Und von ganz wenigen ist Strahlkraft ausgegangen.
Was die einzelnen Gläubigen noch mehr lernen müssen, ist, mehr emanzipiert zu sein von uns hauptamtlichen Seelsorgern. Jeder Christ ist berufen, sein Christ sein, in die Welt hinein, in die Gesellschaft zu leben. Wir Pfarrer sind nur Mutmacher.
Sie sind neben Ihrem Hauptamt als Pfarrer des pastoralen Raums Lünen seit dem 1. April auch im Nebenamt als Polizeiseelsorger tätig. Was bedeutet das für Sie?
Ich bin seit 1996 Priester und Seelsorger, seit 2012 in Lünen und habe eine Ausbildung als geistlicher Begleiter. Jetzt werde ich langsam als Polizeiseelsorger für das Polizeipräsidium Dortmund eingeführt, zu dem auch Lünen gehört. Ich werde Polizeibedienstete in Krisen begleiten, etwa nach schweren Einsätzen, nach Gewaltszenen, die sie verarbeiten müssen, oder bei Gewissenskonflikten. Es können aber auch persönliche Dinge sein. Es geht dabei nicht um Religion oder ums Beten, sondern einfach darum, Gesprächspartner zu sein.
Ich freue mich auf diese neue Aufgabe, weil ich dort mitten in die Gesellschaft hineinwirken kann, auch außerhalb der Kirche. Ich bin übrigens kein „Notfallseelsorger“ – das sind Menschen, die direkt nach schweren Unfällen und Katastrophen gerufen werden und die Betroffenen sofort betreuen.

Wenn Sie auf fast 30 Jahre Seelsorge zurückblicken: Mit welchen Fragen und Themen kommen die Menschen zu Ihnen?
Die Hauptthemen sind tatsächlich die Lebenswenden. Ich habe etwa 50 Beerdigungen im Jahr, zu denen mindestens ein seelsorgerisches Gespräch gehört. Genauso viele Taufen haben wir. Das ist erst mal ein freudiges Ereignis, aber auch da gibt es oft ganz tiefgehende Gespräche. Manchmal sind es Eltern, die schon zwei oder drei Fehlgeburten erlebt haben und jetzt freuen Sie sich endlich, dass ein Kind da ist. Das sind dann auch sehr, sehr emotionale Momente.
Sehr interessant sind für mich auch die Gespräche zur Firmung alle zwei Jahre. Auch das sind noch mal etwa 50 Gespräche mit 15- bis 17-Jährigen. Da geht es eher um die persönliche Entwicklung. Wie könnte meine Lebensplanung aussehen? Was steckt eigentlich in mir? Das sind keine klassischen Beichtgespräche, wo es Schuld und Sünde geht – das kann auch Thema sein, muss aber nicht. Die jungen Menschen sind oft überrascht, dass ein Erwachsener mal ein so erbauliches Gespräch mit ihnen führt.
Dass mich zusätzlich Menschen anrufen und etwas auf dem Herzen haben, kommt höchstens einmal im Monat vor. Da geht es oft um Krankheit, Partnerschaft, Ehe oder Zweifel an der Kirche – Menschen, die gläubig sind, aber vieles an der Kirche nicht mehr gut finden.
Haben Sie in den 30 Jahren einen Wandel erlebt?
Ja, sehr. Die Kirche hat lange geglaubt, jeder Mensch hat so etwas wie ein religiöses Gen und wir müssen die Menschen nur immer mehr und immer besser ansprechen, um das sozusagen wachzukitzeln. Aber mittlerweile sagen soziologische Studien: Glaube, Religion und Transzendenz, also die Vorstellung von einer Verbindung zu oder Einheit mit etwas Größerem, Außerweltlichem, also Gott, spielt für die meisten Menschen immer weniger eine Rolle im Leben. Beruf, Familie, Freizeit, Hobbys, das sind die Lebensthemen der meisten.
Ich merke das häufig bei Taufen. Manche Eltern lassen ihre Kinder nicht taufen, weil sie besonders religiös sind, sondern weil sie einfach finden, dass eine Taufe ein schönes Fest ist.
Wenn Menschen von Transzendenz sprechen, meinen die meisten nur eine Selbsttranszendenz: Durch Sport oder Yoga etwa versuchen sie, ihre Grenzen zu überschreiten, aber das hat nicht die Tiefe einer Begegnung mit dem Göttlichen – dem Glauben, dass Gott Liebe ist und uns erlöst.

Was wollen Sie den Menschen in diesem Jahr zu Ostern erzählen?
Ich möchte in der Osterpredigt den Menschen Hoffnung machen. Es gibt so viel in der Gesellschaft, das manchmal unsere Hoffnung klein macht, was uns zweifeln lässt. Aber ich glaube, es gibt immer noch einen Grund zur Hoffnung. Die Botschaft von Ostern, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern das Leben siegt, gibt uns Kraft dafür, uns für das Leben zu engagieren, miteinander, auch hier in Lünen.

Der Papst äußert sich traditionell an Ostern auch zur politischen Weltlage. Wie handhaben Sie das?
Das sehe ich nicht als meine Aufgabe. Ich werde bei den Menschen bleiben: Wo hast du Dunkelheit erlebt und wie viel Kraft brauchst du? Diese Kraft bekommst du geschenkt, das sagt uns die Botschaft der Auferstehung.
Aber, um das klarzustellen: Die katholische Kirche in Deutschland hat sehr deutlich gemacht, dass sie die AfD für unwählbar hält und auch ich habe in meinen Predigten hin und wieder gesagt: Überlegt euch gut, welche Politik für das menschliche Miteinander gut ist und welche nicht.