Das Kreischen der Motorsägen ist seit rund eineinhalb Wochen verstummt. Nichts lässt mehr im Vorbeifahren vermuten, dass hinter den hohen Bauzäunen rund um das ehemalige Kraftwerksgelände an der Moltkestraße überhaupt einmal Bäume standen, geschweige denn ein ganzer Wald. Nur aus der Luft betrachtet, zeichnen sich auf der im Umbruch befindlichen Industriefläche noch Spuren ab: ein Feld von dunklen Punkten jenseits des großen Kreises, der an den Standort des vor knapp zwei Jahren gesprengten Kühlturms erinnert. 1,8 Hektar Erinnerung an den einstigen Deponie-Wald. Wie sieht der Ersatzwald aus? Und wo ist er überhaupt?
Mit der Antwort tun sich die Verantwortlichen schwer. Das Regionalforstamt Ruhrgebiet in Gelsenkirchen hatte die Genehmigung erteilt, den etwa 40 Jahre alten Wald zu fällen, der über der sogenannten Bischoffs-Deponie gewachsen war. Allerdings nur unter einer Bedingung: Dass es Ersatz gibt - nicht in Form von irgendwelchen Ersatzmaßnahmen oder Ersatzgeld, sondern in Form von Wald. Für die „Waldumwandlung“ - tatsächlich benutzt der Gesetzgeber im Landesforstgesetz diesen beschönigenden Begriff, wenn er Waldvernichtung meint - seien vier Hektar Fläche vorgesehen: also ein Ersatz im Verhältnis von etwas mehr als 1:2. Näher will sich der Sprecher der Forstbehörde dazu aber nicht äußern.
Beim Kreis Unna, dem Sitz der zuständigen Naturschutzbehörde, gibt sich der Sprecher ebenso einsilbig. „Leider können wir an der Stelle aus Datenschutzgründen auch nicht weiterhelfen“, teilt Max Rolke mit. Das Geheimnis lüften kann also allein der Eigentümer der ehemaligen Steag-Fläche und Veranlasser der Rodung: das Unternehmen Hagedorn.
Lünen hat 11 Prozent Waldfläche
„Umfangreiche Ausgleichsmaßnahmen wurden vorgenommen und Ausgleichsflächen sind sichergestellt“, gab sich Hagedorn-Sprecherin Stephanie Hansmann zunächst auch etwas wortkarg. Auf Rückfrage bestätigte sie, was bereits Lüner Politikerinnen und Politiker vermutet hatten: „In Lünen direkt konnten wir trotz monatelanger Recherche bei der Stadt oder Privateigentümern keine Flächen bekommen.“
Das bedeutet: Die Stadt Lünen, die mit einem Waldanteil von gerade einmal 11 Prozent im ohnehin waldarmen Kreis Unna nur im Mittelfeld liegt (zum Vergleich: NRW-weit liegt der Waldanteil bei 27 Prozent, bundesweit bei 32 Prozent), verliert unterm Strich Wald: ein Rückschritt, nachdem sich die Lüner Waldfläche seit 1980 von 601 auf 647 Hektar vergrößert hatte - allerdings sehr unterschiedlich verteilt im Stadtgebiet. Gerade südlich der Lippe und damit auch in Lippholthausen sei erholungsrelevanter Wald „stark unterrepräsentiert“, stellt die Stadtverwaltung selbst fest.

Wo denn dann, wenn nicht in Lünen? Von Mitgliedern des Rates, die sich ebenfalls bei Hagedorn erkundigt hatten, war als Antwort „Bergkamen und Werne“ zu hören: eine Angabe, die so nicht stimmt. Stephanie Hansmann korrigiert: „Die Ausgleichsflächen sind circa 2 Hektar aufgeforstete Fläche in Bönen und Bergkamen sowie circa 2 Hektar in Unna.“ Wie alt sind die Bäume dort? Wie groß sind die Teilflächen? Wo genau liegen sie? Diese Information ist bis Donnerstag (23.2., 17 Uhr) offen geblieben.
Bönen, Bergkamen und Unna
Ludwig Holzbeck, der seit 2018 als Dezernent für die Bereiche Bauen, Umwelt sowie Vermessung und Katasterwesen im Kreis Unna die Verantwortung trägt, kann auch nicht mit genauen Ortsangaben dienen. Aber er kennt die zunehmende Problematik beim Flächenausgleich. „Der Nutzungsdruck auf unbebaute Fläche wächst zunehmend“: Bauland, Gewerbefläche, Freizeitnutzung, Verkehr, Land- und Fortwirtschaft und Naturschutz - alles nebeneinander in einem eng besiedelten Gebiet. „Und so sehr das im Ergebnis auch wünschenswert ist, kommen jetzt noch Flächen-Photovoltaikanlagen dazu“, sagt Holzbeck. Der Konkurrenzdruck auf den Raum steigt erneut. Und der Autobahnausbau in Richtung Münsterland komme auch noch dazu. „Wir haben definitiv ein Problem.“ Ein Freiflächen-Problem.

Dass Lünen in andere Städte des Kreises Unna ausweichen muss, um Ausgleich zu schaffen für Eingriffe in die Natur, wundert Holzbeck nicht. Das sei kreisweit bereits Praxis. Inzwischen werde es auch bereits innerhalb der zehn Städte und Gemeinden zwischen Dortmund und Hamm eng. Denkt der Umweltdezernent bereits darüber nach, jenseits der Kreisgrenzen Ausgleichsflächen zu erwerben? „Nein, das werden wir nicht tun.“ Bestenfalls direkt im Grenzbereich sei das denkbar: ein Ausnahmefall, den es aber bereits gibt. In der Steveraue im Kreis Coesfeld habe sich der Kreis Unna an einer Maßnahme beteiligt, sagt Holzbeck.
In Lünen sieht der Dezernatsleiter aber nicht nur das Problem beim Flächenausgleich, sondern auch die Lösung. „Wir müssen weniger in die freie Fläche gehen und müssen stattdessen künftig stärker als bisher vorgeprägte Standorte nutzen“ - solche wie das ehemalige Kraftwerksgelände in Lippholthausen. Während das Unternehmen Hagedorn das fast 40 Hektar große Grundstück bereits weitgehend abgeräumt hat und bis 2024 für eine neue industrielle Nutzung aufbereitet haben will, sind die Kraftwerksstandorte in Bergkamen-Heil (noch bis in diesem Frühjahr in Betrieb) und Werne-Stockum (Kapazitätsreserve) künftige solche vorgeprägten Gewerbeflächen, die eine neue Nutzung erfahren werden.
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