„Die Hausfrau, die heute den Wasserhahn aufdreht, denkt gewiss nicht daran, daß ihre Großeltern noch das Wasser mühselig von öffentlichen Brunnen holen oder aus dem eigenen ‚Pütt‘ herauswinden mußten“, textete ein Autor im November 1955 in einem Ruhr-Nachrichten-Artikel. „Sie klagt höchstens über den geringen Wasserdruck, der nicht einmal den neuen Wassermotor an der Waschmaschine richtig bewegt.“
Schon 1955 war also nahezu in Vergessenheit geraten, wie die Lüner vor der Installation des Leitungssystems an Trinkwasser kamen. Und heute, weitere 70 Jahre später, tauchen Brunnen, Pumpen oder Waschfrauen nur noch in romantischen Liedern und Gedichten auf. „Ganz verschollen ist die alte, / holde Brunnenpoesie, / da aus Tritons Muschelspalte / eine klare Quelle lallte, / die den Gassen Sprache lieh“, heißt es zum Beispiel in dem Gedicht „Brunnen“, in dem Rainer Maria Rilke schon 1891 darauf blickt, wie ein Brunnen als Treffpunkt und Ort für Austausch in Vergessenheit gerät. „Abends bei dem Röhrenkasten/ sammelte sich Paar um Paar, / weil der Quelle lieblich Glasten / und ihr Laut der tiefgefaßten / Neigung süßes Omen war.“
Während Brunnen heute lediglich durch ihr Plätschern und Rauschen zur Gemütlichkeit eines Ortes oder zur Erfrischung kleiner Kinder an heißen Hochsommertagen beitragen – in Lünen gibt es sie vor St. Georg, am Roggenmarkt oder vor dem Hauptbahnhof – hatten sie in alten Zeiten eine Reihe weiterer Funktionen. Sie dienten als Treffpunkt von Liebespaaren, Platz, an dem man Neuigkeiten erfuhr, und natürlich Mensch und Tier als Wasserlieferant, das ersterer nach Hause zu schleppen hatte.
In Lünen hatte der Marktbrunnen, so erzählt es der Volksmund, sogar eine weitere lebensspendende Funktion: Ihm entsprangen die Babys.

Städtische Wasserversorgung
„Brunnen gab es in Lünen seit Bestehen der Stadt, also über 635 Jahre“, hieß es in den Ruhr Nachrichten vom 26. August 1976 – wobei unklar ist, welches Jahr der Gründung hier zugrunde gelegt wird. 880/890 wurde Lünen als „Sudenliunon“ erstmals urkundlich erwähnt, aus dem Jahr 1195 sind Zölle und ein Markt bekannt, 1216 wurde Lünen befestigt und ab 1267 gab es einen Richter und Amtmann des Bischofs von Münster sowie Ratsherren.
1290 schließlich ist die Rede von einem Stadtsiegel. Fakt ist aber, dass, obwohl Lünen im Mittelalter rundum von Wasser – nämlich von Lippe, Seseke und Stadtgraben – umgeben war, trotzdem innerhalb der befestigten Stadt Brunnen zur Wassergewinnung angelegt wurden. Über ihre Funktion als Trinkwasserlieferant hinaus, dienten sie der Brandbekämpfung. Größere Gehöfte und Stadthäuser besaßen eigene. Außerdem gab es öffentliche Brunnen.
In einem Bericht an den König aus dem Jahr 1722 meldete Steuerrat Motzefeld 1238 Einwohner, die in 265 Häusern lebten, sowie einen öffentlichen Brunnen auf dem Markt (mit drei Ketten und sechs Eimern) plus 98 weitere Brunnen. Mehrere gab es zum Beispiel an der Langen Straße, einen an der Gartenstraße 12, einen in der Mauerstraße, in der Altstadtstraße, der Bäckerstraße, am Roggenmarkt oder auf der Königsstraße und der Silberstraße.
Später standen in der Innenstadt Pumpen – an den Außenwänden der Häuser installiert – für den allgemeinen Gebrauch zur Verfügung. Teilweise wurden sie von Bürgern unterhalten und waren der Öffentlichkeit zugänglich; die Stadt gab Zuschüsse.
In den Zeitungen aus den Nachkriegsjahren bis hin in die 1980er hinein erschienen regelmäßig Berichte, dass bei Bauarbeiten alte Brunnen oder Pumpen gefunden worden seien. So war in einem Ruhr-Nachrichten-Artikel aus dem Jahr 1976 ein Brunnen an der Langen Straße 20 Gegenstand, der Berichterstattung: „Es dürfte sich hier wahrscheinlich um einen alten Gemeinschaftsbrunnen handeln, der einstmals einer ganzen Nachbarschaft als Wasserquelle gedient haben mag“, heißt es. „Er muss wohl 1890 abgedeckt worden sein, denn auf im Archiv vorhandenen Fotos aus dieser Zeit ist der Brunnen nicht mehr zu erkennen. Wahrscheinlich war er auf der Lüner Hauptstraße dem aufkommenden Verkehr gewichen.“
Verkehr zerstört Brunnen
Ein anderer Artikel, erschienen 1966 in der Westfälischen Rundschau (WR), erzählt die Geschichte des „wohl ältesten funktionsfähigen Brunnen in Lünen“, wenn nicht gar „weit und breit“, verortet auf dem Anwesen der Familie Völkering in Wethmar und datiert auf 1895. „Für Elisabeth Völkering ranken sich rund um den Brunnen viele Erinnerungen an ein arbeitsreiches Leben. Denn die Völkerings betrieben früher wie heute ein Fuhrgeschäft“, heißt es in dem Bericht.
Oder: „Als im heißen Sommer 1959 allgemein über die Wassernot geklagt wurde, hat H. Henrichmann aus seinem Brunnen, der noch nie trocken stand, ‚aus dem Vollen geschöpft‘“, erzählen die Ruhr Nachrichten ebenfalls1966 über einen Brunnen an der Langen Straße 75, der zu diesem Zeitpunkt noch funktionsfähig gewesen sei.
Der immer stärker werdende Lastwagenverkehr und die dadurch hervorgerufenen Erschütterungen trugen aber dazu bei, dass Brunnenwände nach und nach einbrachen und das Wasser verschmutzte, sodass diejenigen, die die Zeit überdauert hatten, heute verschwunden sein dürften.
Marktpütt als Herz der Stadt
Der bedeutendste aller Lüner Brunnen war aber der Brunnen auf dem Alten Markt. Der Sage nach holten die Hebammen hier heraus die Kinder. Tatsächlich finden sich in alten Schriften immer wieder Hinweise darauf. In den Abendstunden wurde hier außerdem das Vieh getränkt; hier war seit alters her der Treffpunkt. Besonders nach Feierabend trafen sich die Lüner, um am Brunnen Erfahrungen und Neuigkeiten auszutauschen.
Erstmals wurde 1743 vom Marktbrunnen berichtet. Im Jahr 1831 beantragten schließlich 19 Mitglieder der Marktnachbarschaft beim Gemeinderat die Anlage von zwei oder drei Pumpen mit vier Eimern und Ketten auf dem Marktbrunnen. Die Interessenten verpflichteten sich, ein Drittel der Kosten zu zahlen. Zwei Drittel sollte die Stadt übernehmen. Man wünschte sich eiserne Pumpenröhren, die von der Eisenhütte Westfalia geliefert werden sollten. Der Rat hielt die Anlage für zweckmäßig, auch im Interesse der Verzierung des Marktplatzes. So wurde sie 1834 erbaut. Aber schon ein Jahr später klagten die Lüner darüber, dass die Pumpe kein Wasser gebe. 1858 versiegten die Quellen kurzzeitig. Durch Versenkung des Brunnens und Einlassung eines Fasses wurden sie dann doch noch einmal flüssig gemacht.
Im Jahr 1895 wird Lünen an die Trinkwasserversorgung angeschlossen. Die Marktpumpe – oder Marktpütt, wie sie im Volksmund heißt – existierte dennoch weiter. 1901 stand im Stadtrat zur Debatte, die alte Marktpumpe noch einmal zu reparieren. „Ausschlaggebend für diesen heute nebensächlichen und völlig vergessenen Beschluss war die gewichtige Begründung eines der Ratsmitglieder“, heißt es in einem Artikel aus dem Westfälischen Anzeiger (WA) aus dem Jahr 1963.
„Der Ratsherr überzeugte die Kollegen, dass der Brunnen lebensnotwendig für das Fortbestehen der Stadt sei. Schließlich hätten alle Ratsmitglieder einstmals aus dieser Pumpe auf dem Marktplatz den Weg ins Erdendasein gefunden.“
Also wurde sie wegen ihres symbolischen Werts – und einem alten Volksglauben – noch einmal erneuert, musste aber im Mai 1908 endgültig dem immer stärker werdenden Verkehr weichen. „Für 22 Mark kaufte sie der Altwarenhändler Sally Benix von der Stadt“, steht in alten Aufzeichnungen.

Im März 1895 wird ein Vertrag zwischen den Städten Lünen und Unna geschlossen – Lünen zählte damals 5500 Einwohner; Brambauer, Gahmen oder Beckinghausen zählten noch nicht dazu. Unna versorgte die Lippestadt fortan mit Trinkwasser für die Leitung. Nur als während des Zweiten Weltkriegs die Möhnetalsperre gesprengt wurde, griffen die Lüner noch einmal auf ihre alte Infrastruktur, auf die alten Pumpen und Brunnen, zurück.
„In den 1930er Jahren begann der eigentlich bis heute währende Wettlauf der Wasserversorgung mit dem steigenden Verbrauch“, berichteten die Ruhr Nachrichten dann zum 60. Geburtstag der Trinkwasserversorgung im Jahr 1955. Denn die Einwohnerzahl im Versorgungsnetz betrug 1925 noch 20.000, 1935 schon 35.000 Personen. Die „Leistungsfähigkeit des Versorgungsnetzes sei restlos erschöpft.“ Durchgreifende Maßnahmen seien erforderlich.
Sukzessive wurde das Netz erweitert, die Leitungen im Durchmesser vergrößert und die Zulieferer-Zuständigkeiten verschoben. Heute erfolgt die Wasserversorgung im Stadtgebiet Lünen durch die Gelsenwasser AG (Wasserlieferung) und die Stadtwerke Lünen GmbH, die das Wasserverteilnetz betreiben und unterhalten. Das Wasser kommt aus der Ruhr. Nur am Stadtrand gibt es tatsächlich nach wie vor einige sogenannte Eigenversorgungsanlagen.