Lüner Lehrerin über den Schulalltag „In dem Moment konnte man eine Stecknadel fallen hören“

Von Iris Lüken
Lüner Lehrerin gibt Einblicke in den Schulalltag: „Das Wichtigste ist Respekt“
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Heute ist ein wichtiger Tag. Alle sind aufgeregt. Die Lehramtsanwärterin hat heute ihre Abschlussprüfung. Hoffentlich klappt alles. Sie hat sich ein schwieriges Thema ausgesucht. Im Fach Religion. In mehreren vorausgegangenen Prüfungen während ihres Referendariats gab es Kritik, weil die Unterrichtsthemen nicht genügend inhaltsreich waren. Für die Kinder waren es schwierige Themen. Religion ist schon eher abstrakt.

Heute aber hat die Lehramtsanwärterin das Thema heruntergebrochen: Es geht um den Umgang mit Gefühlen. Die Kinder haben sich im Vorfeld Gedanken dazu gemacht, welche schlechten Gefühle sie in welcher Situation hatten und was ihnen geholfen hat, diese Gefühle zu verarbeiten.

Die Stunde beginnt. Eine vierte Klasse. Nicht ohne das Alter. Die Pubertät beginnt. Zu sich selber zu stehen ist in dieser Zeit nicht einfach.

Iris Lüken.
Iris Lüken brennt vor allem für die Mathematik. © Kristina Gerstenmaier

Die Kinder sitzen im Kreis. Sie erzählen von Situationen. Davon, dass sie alleine waren. Davon, dass sie Angst hatten. Von einer sehr kranken Mutter erfahre ich und davon, dass meine Schülerin sie nicht sehen durfte, als die Mutter ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Mehrere Tage wusste sie nicht, wie es ihr ging.

Dann ist ein anderes Mädchen dran und berichtet davon, als sie das letzte Mal ihre Mutter sah. Sie lebt in einer Wohngruppe, weil sie aus der Familie genommen wurde. Ihre Mutter hat sie immer wieder geschlagen. „Das macht mich traurig“, berichtet sie.

Die anderen Kinder nicken verständig. Eines meldet sich und meint: „Das darf sie gar nicht. Kinder haben Rechte. Du hast richtig gehandelt, als du gegangen bist. Sowas muss sich niemand gefallen lassen!“

Grundpfeiler Respekt

Erst in diesem Moment komme ich zurück in die Realität. Ich nehme wahr, dass alle Kinder gespannt beim Thema sind. Man könnte eine Stecknadel fallen hören.

Ich muss schlucken. Versuche mir möglichst unauffällig eine Träne wegzuwischen, Erhasche dabei einen Blick auf den Prüfer - und sehe, dass es ihm genauso geht.

Die Lehramtswärterin lenkt über zu der Frage: Was kann ich in solchen Situationen tun, damit es mir besser geht?

Alle Kinder haben Ideen. Sie bringen sie ein. In aller Ruhe. Die Klingel unterbricht die Unterhaltung. „Ich notiere den Stand von heute, damit wir morgen dort weitermachen können“, beendet die Lehramtswärterin die Stunde. Die Kinder hüpfen fröhlich redend auf den Schulhof und ich brauche ein paar Minuten, um das alles zu verdauen. Ich habe Ehrfurcht vor der Lehramtswärterin, die durch die Stunde geführt hat, als hätten sie über das Wetter geredet.

Ganz ehrlich reden

Und ich habe Hochachtung vor den Kindern. Mit welcher Selbstsicherheit sie ihre Themen besprochen haben. Schwierige Themen. Ich frage mich, wieviel Vertrauen diese Stunde zeigt?

Die Lehramtsanwärterin hatte mich vorher gefragt, was ich meine: sie überlegte sich nach Köln zu bewerben. An eine Brennpunktschule. Ob sie das wohl könne? Ihr fiele die Differenzierung sehr schwer. Die Kinder seien so unterschiedlich in ihren Leistungen. Da richtig zu unterrichten wäre nicht leicht…

Nach dieser Stunde wusste ich ganz sicher: Ja, das kannst du! Wer Situationen schafft, in denen Kinder ganz ehrlich reden können, über die Sorgen, die sie haben, sich gegenseitig zuhören und ernsthafte Ratschläge geben, der hat das Wichtigste bereits in sich: Verständnis für und Respekt vor unterschiedlichen Lebensbedingungen. Und ein Wohlwollen für die uns anvertrauten Kinder.

Wenn diese Grundpfeiler stimmen, dann werden sich Ideen finden, wie Wortarten unterschieden werden und wie ich mir merken kann, welche Wörter mit einem großen Buchstaben beginnen.

Es sind diese Momente, die mir die Gewissheit geben: hier bin ich richtig. Hier will ich sein.

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