Ostern ist 1945 nicht wirklich ein Fest. Justus Pabst verbringt die „Feiertage“ größtenteils im Keller seiner Wohnung in Brambauer – beim Schein einer Benzin-Grubenlampe, in seinem Wintermantel vor Kälte zitternd. Ungewissheit, Angst, Wut gehen ihm durch Kopf und Herz, als die Bomben explodieren und seine Arbeitsstätte – die Zeche Minister Achenbach – treffen. Unerträglich ist das Getöse der explodierenden Granaten und Schrapnells.
Die Verteidigung von Brambauer nach sechs Jahren Krieg und einer sich sehr deutlich abzeichnenden Niederlage nennt Justus Pabst einen „Wahnsinn, entsprungen in den Gehirnen ehrgeizverseuchter und größenwahnerfüllter Nazi-Usurpatoren“. Tage (und Nächte) dauern die Kämpfe um den Stadtteil von Lünen an. Was genau ist damals passiert? Wie hat die Bevölkerung das Ende des Krieges erlebt?

Justus Pabst hat mitgeschrieben. Sein „Tatsachenbericht in Tagebuchform“, der im Stadtarchiv Lünen einsehbar ist, ist Grundlage für diesen historischen Ticker.
3. April: Bomben fallen auf Minister Achenbach
18.30 Uhr: Das Motorrad ist weg. Der Steiger-Hauptfeldwebel Schall aus Brambauer hat es beschlagnahmt, zwei Soldaten haben es kurz danach aus der Wohnung mitgenommen. „Trotzdem ich sagte, dass die Maschine von der Wehrinspektion in Dortmund beschlagnahmt sei, und dass die Maschine außerdem einen Fehler hätte.“ Justus Pabst ist offensichtlich nicht erfreut über das „widerrechtliche Entfernen“ seines Motorrads aus der Wohnung. Der Abend wird für ihn nicht besser. Er verbringt ihn zusammen mit seiner Haushälterin im Keller – mal wieder. Fliegeralarm.
19 Uhr: Es war gerade erst Ostern – eine unruhige Zeit, an dem „sonst so stillen Ort“, wie Justus Pabst schreibt. Ostersamstag (31. März 1945) zogen müde Truppen einzeln oder in kleineren Trupps von Waltrop kommend nach Dortmund. „Am ersten Osterfeiertag rollten während des ganzen Tages unter entferntem Geschützdonner schwere und leichte deutsche Panzer, Panzer-Spähwagen, Geschütze, Autos und so weiter auf der Brechtener Straße in der Richtung Dortmund vorüber“, schreibt Justus Pabst. Das Ziel der Panzer ist der Volksgarten in Brambauer. Dort war von den Deutschen – vor Fliegersicht geschützt – eine Reparaturstation eingerichtet worden. „Den Panzern folgten Pferdefuhrwerke, die oft noch Vieh, z.B. Kühe, hinter sich herzogen, die vor Mattigkeit nicht mehr vorwärtskamen.“ Einen „Zug des Elends“ nennt Justus Pabst die von ihm beobachteten Truppen.
19.30 Uhr: In den Nächten rund um die Osterfeiertage waren die Panzer ohne Licht auf Lünens Straßen unterwegs. Verständlicherweise: Die Werkstatt im Volksgarten sollte ja unentdeckt bleiben. „Die Straßen, besonders die Brechtener Straße vor dem Volksgarten, wurde in einen trostlosen Zustand versetzt. Bäume wurden beschädigt, im Volksgarten durch die schweren Panzer wie Streichhölzer umgelegt, Leitungsmasten der Straßenbahn wurden geknickt, Bürgersteige und Bordsteinkanten von den Panzern und schweren Lastwagen zermalmt, Fußgänger kamen auf den Bürgersteigen wiederholt in Lebensgefahr“, beschreibt Justus Pabst sein Brambauer. Er hat das alles mit seinen eigenen Augen gesehen. Und durch die Linse seiner Kamera.

20 Uhr: Hauptberuflich ist Justus Pabst Korrespondent auf Minister Achenbach, zuständig vor allem für den französischen Schriftwechsel der Zeche. Das Fotografieren ist aber mehr als ein Hobby für den am 6. März 1945 gerade 70 Jahre alt gewordenen Mann. In der Werkszeitung veröffentlicht er immer wieder Beiträge – alle bebildert mit seinen eigenen Fotografien. Während des Krieges werden er und seine Kamera zu den wichtigsten Zeitzeugen in Lünen. Im Archiv der Stadt befindet sich eine ganze Fotosammlung mit Bildern von Justus Pabst, die Zerstörung und Elend in der Stadt dokumentieren. Auch im Volksgarten in Brambauer ist er dieser Tage unterwegs, um die Fahrzeuge zu fotografieren.

20.30 Uhr: Zwei Stunden ist es jetzt her, dass Justus Pabst sein Motorrad abgeben musste. Genau mit der Maschine hat der Fahrer jetzt einen Unfall. Er endet tödlich. Auch das hat Justus Pabst in seinen Aufzeichnungen notiert.
21.30 Uhr: Justus Pabst ist alleinstehend. Er wohnt mit seiner Haushälterin in einer Wohnung in Brambauer. Die beiden werden zum „wir“ in seinen Aufzeichnungen. „Wir verbrachten den größten Teil der Nacht im Keller“, schreibt er. Die Bevölkerung von Lünen ist nach den langen Kriegsjahren geübt darin, die Nacht im Keller oder im Bunker zu verbringen. 1165-mal heulten seit 1939 die Sirenen zum Fliegeralarm. 50 Fliegerangriffe gab es in der Stadt dann tatsächlich – rund 29.000 Bomben fielen auf Lünen. 287 Menschen starben dadurch, insgesamt 2652 Gebäude wurden zerstört.
22 Uhr: Nicht nur Bomben fielen bei Fliegerangriffen vom Himmel – auch Flugblätter. Eine Strategie der Alliierten, die deutsche Bevölkerung mit Informationen zu versorgen und der nationalsozialistischen Propaganda entgegenzuwirken. „Daneben griffen die Alliierten auch zu schonungslosen Methoden wie die Veröffentlichung von Bildern mit Leichen deutscher Soldaten und die Frage nach Verlustmeldungen“, erklärt der ehemalige Leiter des Stadtarchivs Lünen in dem Beitrag zum Zweiten Weltkrieg in dem Buch „Lünen. 1918 -1966“.
22.30 Uhr: Um zu wissen, dass der Krieg für die Deutschen nicht mehr zu gewinnen ist, braucht die Bevölkerung in Brambauer an diesem Abend im April 1945 aber auch keine Flugblätter mehr. Sondern einfach nur offene Augen und offene Ohren. Die alliierten Soldaten haben in den letzten Wochen das Sauer- und Siegerland und vor allem das Ruhrgebiet von zwei Seiten in die Zange genommen. Dieser sogenannte „Ruhrkessel“ ist seit Ostersonntag (1. April) geschlossen – darin sind rund 325.000 Soldaten und rund fünf Millionen Menschen nun eingeschlossen. Die Front rückt näher – auch in Lünen ist das deutlich spürbar in der Karwoche 1945. „Vor der Stadt, hauptsächlich an den Straßen nach Cappenberg und nach Bork wurden Schützengräben und Postenlöcher ausgehoben. Mitglieder der NSDAP versuchten in der Stadt verbliebene Bürger, vor allem die Frauen und Kinder, zu veranlassen, die Stadt zu verlassen. Lautsprecherwagen durchfuhren die Straßen und forderten die Frauen auf, sich bei den Meldestellen der Partei einzufinden, wo die Transporte zusammenstellt werden sollten. Nur wenige folgten der Aufforderung. Die Beschießung durch die Tiefflieger wurde immer schlimmer, ein Fliegeralarm folgte dem nächsten“, beschreibt das Lünen-Buch die Lage.
Die Muna in Bork ist am 30. März 1945 (Karfreitag) gesprengt worden – von den Deutschen, damit die dort gelagerte Munition nicht in die Hände der Alliierten gerät. „Der Himmel war von Sprengwolken bezogen. Eine Detonation folgte der anderen“, erklärt Fredy Niklowitz. Das Rollen der herannahenden Artillerie – es ist in Lünen deutlich zu hören. Die am Karsamstag in die Stadt gezogene SS-Formation eines sehr jungen Sturmführers soll angeblich den Auftrag gehabt haben, Lünen bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.
23.30 Uhr: Es ist gegen 23.30 Uhr am 3. April 1945, als das Bombardement auf die Zeche in Brambauer beginnt.
4. April: Brambauer wird weiter beschossen
11 Uhr: Nach der Bomben-Nacht in Brambauer ist die Verschnaufpause für die Bevölkerung nicht sonderlich lang. Gegen 11 Uhr am 4. April wird die Beschießung wieder aufgenommen.
12 Uhr: Was Justus Pabst am Vortag selbst erlebt hat, geht auch an diesem Tage weiter: Kraftfahrzeuge und Fahrräder werden von deutschen Soldaten beschlagnahmt. Ein Autofahrer wird von einem Soldaten sogar mit vorgehaltener Pistole gezwungen, sein Fahrzeug abzugeben – er hatte sich zunächst geweigert. Die Gerüchteküche brodelt: Die Bevölkerung erklärt sich die Beschlagnahmungen damit, dass die Soldaten eigentlich nur eine schnelle Flucht planen.
13 Uhr: Der Strom in Brambauer fällt aus.
14 Uhr: Auch die Wasserversorgung im Brambauer bricht zusammen.
15.30 Uhr: Das Benzollager auf Minister Achenbach brennt, nachdem er von den Alliierten mehrmals getroffen wurde. Auch der Bauernhof Große-Oetringhaus wird in Brand geschossen – hier hatten sich die deutschen Truppen gesammelt.
16 Uhr: „Schrecklich“ nennt Justus Pabst die Explosionen der Granaten und Schrapnells, die er an diesem Tag immer wieder hört. Das Haus Erika habe schon einen „Volltreffer“ erhalten, sagt er. „Die Elsa-Brandström-Straße war sehr zerstört, auf der Straße ein Pferd notgeschlachtet worden, das tödliche Schussverletzungen hatte“, schreibt er in seinen Bericht.
17 Uhr: Was passiert hier eigentlich gerade? Justus Pabst reflektiert das große Ganze recht zeitnah. Er schreibt: „Die Verteidigung von Brambauer, die Zerstörung der zahlreichen Brücken und sonstigen Werte waren Akte des Wahnsinns. Sie hat außer der Vernichtung großer Sachwerte auch vielen Personen Leben und Gesundheit gekostet.“
19 Uhr: Am gerade ein paar Tage zurück liegenden Ostersonntag 1945 waren überall in der Stadt laute Detonationen zu hören. „Als sich die deutschen Soldaten auf das südliche Ufer der Lippe zurückzogen und dadurch vom Feinde absetzen, sprengten sie sämtliche Brücken, bis auf die Lippebrücke im Zuge der Graf-Adolf-Straße, die den Sprengungen standhielt und für den Fußgängerverkehr und leichte Fahrzeuge benutzbar blieb“, heißt es im Lünen-Buch. Die Amerikaner waren im Anmarsch, das war deutlich zu hören. Am Vormittag des Ostersonntags rückten die ersten alliierten Truppen über die Borker Straße und den anderen beiden Ausfallstraßen nach Lünen vor. „Aus den anliegenden Häusern wurden weiße Fahnen und Tücher herausgehängt. Ohne einen Schuss abgegeben zu haben, kamen sie zunächst bis zur Graf-Adolf-Straße, an die Ecke der Wirtschaft Köster und bis in die Höhe des Lüner Hauptbahnhofs. Nachdem diese Vorhuten sich wieder zurückgezogen hatten, tauchten kurze Zeit später etwa ein Dutzend Panzer auf, die in der Garten-, Altstadt-, Münster-, Merschstraße und hinter dem Hauptbahnhof Aufstellung nahmen“, beschreibt Fredy Niklowitz die Lage. In der Altstadt kommt es nicht zu ernsthaften Kampfhandlungen. Der am Nordufer der Lippe gelegene Teil der Stadt geht in amerikanische Besatzung.
20 Uhr: In Brambauer ist die Lage auch an den Tagen nach Ostern noch nicht ganz so klar. Immer weiter laufen die Kampfhandlungen – auch an diesem 4. April, an dem sich Justus Pabst kaum aus dem Haus traut.
21 Uhr: Gegen 21 Uhr wagt er zusammen mit seiner Haushälterin dann doch einen Schritt aus dem Keller und vor die Tür. „Wir verließen unter Lebensgefahr unsere Wohnung, denn der Beschuss von deutscher und feindlicher Seite konnte in jedem Augenblick wieder einsetzen.“ Sie eilten zum Zechenstollen, um dort für die Nacht Schutz vor den Kämpfen zu suchen. „Kurz nach Betreten des Stollens heulten auch schon die ersten Granaten über uns hinweg, ihre Explosionen waren im Stollen im Laufe der Nacht deutliche wahrzunehmen.“
5. April: Panzer in Brambauer
7.30 Uhr: Nach der Nacht im Stollen ist der Beschuss endlich erst mal wieder vorbei. Justus Pabst kehrt zurück in seine Wohnung. Auf dem Weg begegnen er und seine Haushälterin vor der evangelischen Kirche zum ersten Mal amerikanischen Panzern. „Sie fuhren langsam und äußerst vorsichtig. Die hinteren Teile waren mit einem knallroten, weithin leuchtenden Tuch belegt, die rote Farbe hatte einen Stich ins Violette. Es war ein Schutz gegen Fliegerangriffe.“
7.55 Uhr: Ruhe gibt es nicht für Justus Pabst. Es ist 7.55 Uhr, als ein amerikanischer Soldat die Glasscheibe der Haustür mit einem Gewehr einschlägt. Er öffnet die Tür und durchsucht die Wohnung und den Keller „mit schussbereitem Gewehr“. „Sein Äußeres war wenig vertrauenerweckend“, schreibt Pabst. Schon bald verschwindet der Soldat aber wieder.
9 Uhr: Der Beschuss setzt wieder ein. Ein Schuss geht auch in die Wohnung von Justus Pabst – er landet in der Wand neben dem eichenen Bücherschrank. „Auf allen Gegenständen, auch auf den Sofas, lag eine dicke Kalkschicht, die von den durch Granatsplitter zerrissenen Wänden herrührte.
13 Uhr: Es ist jetzt Waffenruhe. Aber die Aufregung geht für Justus Pabst und seine Haushälterin weiter. Zwölf amerikanische Soldaten betreten die Wohnung der beiden. „Sie waren sich mit ihren gefetteten und mit Straßenschmutz bedeckten Stiefeln auf die Sofas und Matratzen, die sie aus den Betten gerissen hatten, zerbrachen die Federn und beschmutzen die Bezüge derart, dass eine Wiederinstandsetzung und Reinigung nicht mehr möglich sein wird.“
13.30 Uhr: Die Soldaten kochen sich in der Küche etwas zu essen – hinterlassen beim Justus Pabst keinen guten Eindruck. „Die Wohnung war nach einer halbstündigen Anwesenheit dieser Kulturträger in einen nicht zu beschreibenden Zustand versetzt worden. Die Soldaten waren Herren der Situation, ich als Hausherr war die Null vor dem Komma. Leere Konservendosen, Papier, Verpackungsmaterial, Straßenschmutz, Zigarettenstummel, Speisereste etc. bedeckten den Fußboden.“
15 Uhr: Was Justus Pabst im Kopf bleibt von dem „Besuch“ der Amerikaner: ihr Zigarettenkonsum. Die auf dem Boden liegenden Zigaretten seien nur „angeraucht“ gewesen und dann fortgeworfen worden. „Sie lagen in Massen herum und gaben Zeugnis von dem Überfluss an Tabakwaren, in dem die amerikanischen Soldaten schwelgen. Und wir Deutsche haben schon seit Wochen kein Quäntchen Tabak mehr. Tabakkarten sind, weil Tabakwaren in keinem Geschäft mehr zu haben sind, nicht mehr ausgegeben worden.
16.30 Uhr: Das Kasino der Zeche Minister Achenbach ist schwer getroffen. Am Dach gab es einen „Volltreffer“, beobachtet Justus Pabst. Im Gastraum liegt ein Blindgänger. Justus Pabst hat keine Gelegenheit, ihn zu fotografieren. Einen anderen Blindgänger, der im März 1945 auch schon auf die Zeche fiel und nicht explodierte, hat er aber vor die Linse bekommen. Ein Schild wies damals auf die Gefahr hin.
17.30 Uhr: Offensichtlich haben die Amerikaner die Zeche mittlerweile eingenommen. Zumindest schreibt Pabst davon, wie sie im Kasino „gehaust“ hätten. „Worte können das Chaos in den Gesellschafts- und Wohnräumen nicht schildern. Tische und Fußböden waren mit Papier, Speiseresten, Zigarettenstummeln, Straßendreck, Draht, Holzstücken usw. bedeckt. Die Zimmerecken waren als Klosetts benutzt, mit Tellern war alles schamhaft zugedeckt worden.“
18 Uhr: Die Kämpfe laufen weiter – mit Verlusten auf beiden Seiten. „Ein schwer verwundeter amerikanischer Soldat, dessen Gesicht von Sprengstücken zerfetzt, und der erblindet war, wurde in meine Wohnung gebracht. Er schrie herzerweichend. Meine Haushälterin und ich wurden sofort in den Keller gebracht.“
19 Uhr: Noch mal kommen Amerikaner in die Wohnung – bewaffnet. „Sie gaben sich den Anschein, etwas zu suchen, leuchteten in den Keller hinein und entfernten sich dann wieder.“ Sein Gefühlsleben beschreibt Justus Pabst nicht. Weil weiterhin stark und langanhaltend geschossen wird, verbringen er und seine Haushälterin weine weiter Nacht im feuchtkalten Keller.
6. April: Deutsche im Amerikaner im Artillerieduell
10 Uhr: Es startet wieder ein trostloser Tag in Brambauer – das weiß Justus Pabst natürlich noch nicht, als er den Tag beginnt. Am Vormittag hört er wieder Schüsse von beiden Seiten. Der Krieg hat noch kein Ende, es wird weiter gekämpft.
11 Uhr: Mittlerweile ist es unmöglich, irgendwie an Lebensmittel zu kommen. Trockenes Brot gibt es bei Justus Pabst und seiner Haushälterin. Mit dem Beginn des Krieges hatte die Rationierung der Lebensmittel angefangen – auch in Lünen natürlich. Die Rationen wurden im Verlauf des Krieges immer geringer – jetzt, gegen Ende, liegen sie bei etwa 375 Gramm Fleisch, 4500 Gramm Brot, 375 Gramm Zucker, 187,5 Gramm Fett, 375 Gramm Rührmittel, 4 Kilo Kartoffeln, 3 Kilo Gemüse und 7/8 Liter Milch. Auf dem Marktplatz kam es regelmäßig zu langen Schlangen, wenn Lebensmittel ausgegeben wurden. Die geringen Rationen sind an diesem Tag aber nicht das Problem von Justus Pabst und seiner Haushälterin – die beiden haben einfach Angst, das Haus zu verlassen. Draußen ist Krieg.

12.45 Uhr: Endlich ist mal Feuerpause. Zwei amerikanische Soldaten kommen zu Justus Pabst in die Wohnung, sagen, dass sie Waffen suchen. „Sie fragten, ob wir Schnaps im Haus hätten.“
13 Uhr: Mehrere deutsche Gefangene werden in einem amerikanischen Auto Richtung Waltrop weggefahren, berichtet Justus Pabst.
15 Uhr: Den Nachmittag bestimmt in Brambauer mal wieder ein starkes Artillerieduell. „Das Getöse der explodierenden Granaten und Schrapnells war unerträglich. Wir saßen fast den ganzen Tag, in Decken gehüllt, beim Licht einer Benzin-Grubenlampe im feuchtkalten Keller,“ so Justus Pabst.
16.30 Uhr: Die deutschen Truppen haben sich in die Wälder südlich (In den Erlen und im Rügel) und südöstlich (In den Waldbeersträuchern) von Brambauer zurückgezogen.
18 Uhr: In Brambauer geht wieder ein Kriegstag zu Ende. Aber wie sieht es eigentlich im Rest von Lünen aus? Bisher ist weiter nur der nördliche Teil der Stadt von amerikanischen Truppen besetzt. Im Rest geht – wie in Brambauer – der NS-Alltag weiter. „Die NS-Kreisleitung, die ihre Kommandostelle im Luftschutzbunker am Markt in Lünen-Süd eingerichtet hatte, hielt die Bevölkerung zur bedingungslosen Verteidigung der Stadt an. Auf ihre Anordnung hin soll die Kartei des Meldeamtes zum Teil vernichtet worden sein; neben den Lippebrücken waren auch die Kanalbrücken restlos gesprengt worden, sodass die Stadtteile voneinander abgeschnitten waren. Nach der Einnahme von Hamm stoßen die Amerikaner in südwestlicher Richtung auf Kamen vor. Auch bei Werne überschritten amerikanische Panzer die Lippe Richtung Süden“, heißt es in dem Beitrag zur Stadtgeschichte von Fredy Niklowitz.

7. April: Beschießung von Brambauer „in einem Maße, wie wir sie noch nicht erlebt haben“
2.30 Uhr: Die Nacht ist unruhig. Mal wieder. Um 2.30 Uhr geht der Beschuss wieder los. „Wir saßen im Keller“, schreibt Justus Pabst.
4.40 Uhr: Rund zwei Stunden geht der Beschuss weiter, dann ist erst mal Ruhe. Im Hause Justus Pabst wird sie aber mal wieder nicht lange dauern…
6 Uhr: Wieder stürzen Soldaten in die Wohnung – 20 „schwer bewaffnete Amerikaner“ durchleuchten und durchsuchen mal wieder die Wohnung von Justus Pabst. Was sie für ein Bild der Verwüstung hinterlassen, beschreibt der Mann aus Brambauer in seinem Manuskript – mal wieder. Seine Verärgerung über das Auftreten der alliierten Soldaten wird dabei deutlich. „Sie leuchtete mit ihren elektrischen Taschenlampen die Wohnung vom Keller bis zum Boden ab, warfen in den Zimmern alles durcheinander, rissen die Schubfächer heraus und streuten ihren Inhalt auf dem Fußboden umher. Sie warfen die Betten auf den schmutzigen Fußboden, zertraten und zerrissenen sie mit ihren schmutzigen Stiefeln, und das nicht nur oben in meiner Schlafstube, sondern auch unten in der Küche, auf deren Fußboden ein Brett aufgeschlagen war. In den oberen Räumen waren Stuhlbeine und Stuhllehnen abgebrochen und lagen umher.“
9 Uhr: Bestohlen haben die Soldaten Justus Pabst auch. Sie nahmen zum Beispiel Feuerzeuge mit – oder einen Lichtmesser, den er zum Fotografieren nutze. Dazu hat Justus Pabst in diesen Tagen aber sowieso keine Gelegenheit. Zu gefährlich, wird der Stadtteil doch fortwährend beschossen. Auch Negative und Fotos hat Justus Pabst 1945 nur noch wenige zu Hause. Er hat den Großteil seines Archivs noch während des Zweiten Weltkriegs zur Verwahrung der Stadt Lünen übergeben. Zusammen mit den Archivalien der Stadt sind die Fotos und Aufzeichnungen in das Haus Wenne im Sauerland gebracht worden – zur Sicherung. Der Plan ging allerdings nicht ganz auf. Beide Archive sind 1945 von polnischen Zwangsarbeitern geplündert und zu großen Teilen zerstört worden. 3300 Fotos aus Lünen, so die Schätzung von Pabst selbst, sind Opfer des Vandalismus geworden.
12 Uhr: Es gibt mal wieder nur ein karges Mittagessen – beim Schein einer Kerze im feuchten Keller verzehrt. „Schweres Geschützfeuer raste über Brambauer hinweg, Flieger kreisten über uns“, schreit Justus Pabst.
15 Uhr: „Wir können den Keller nicht verlassen“, schreibt Justus Pabst. „Lebensmittel sind nicht im Hause. Wir bekamen von unserer Nachbarin einen Topf sehr gute, heiße Suppe, sonst hätten wir nichts Essbares gehabt.“
16 Uhr: Stundenlang sitzen Justus Pabst und seine Haushälterin im Keller. Wie sie sich die Zeit vertrieben? Ob sie Radio hören konnten oder anders an Informationen kamen? Das ist nicht bekannt, Justus Pabst hat selbst nichts dazu in seinen Aufzeichnungen festgehalten. Vermutlich ist ihnen in diesen dunklen und trostlosen Stunden gar nicht bewusst, wie gut es ihnen geht. Zeitgleich – am 7. April 1945 – setzt sich in Thüringen der Todeszug von Buchenwald in Bewegung. Häftlinge des Konzentrationslagers sollen mit Güterwagen der Eisenbahn ins KZ Dachau gebracht werden, um gegen Ende der Kriegsphase nicht in die Hände der immer weiter vorrückenden alliierten Truppen zu geraten. Die Bedingungen für die Menschen, die Teil des Zugs sind, sind grausam und kaum mit Worten zu beschreiben. Viele von ihnen sterben – vor Hunger, Entkräftung und/oder weil die SS sie im Verlauf der nächsten drei Wochen erschießt. Der Zug kommt am 28. April in Dachau an.
Ein Tag später wird er von US-Soldaten gefunden, die das Konzentrationslager dort befreien. Die Zustände, die die Amerikaner vorfinden, schockieren sie. Und sie beschließen, das Ausmaß der Nazi-Verbrechen zu dokumentieren. Sie machen Fotos und fertigen einen umfassenden Bericht an, der schon im Mai 1945 veröffentlicht wird. Die Massenverbrechen der Deutschen erschüttern die Welt. „Dachau, 1933–1945, wird für alle Zeit als eines der grausamsten Symbole für Unmenschlichkeit in die Geschichte eingehen. Unsere Truppen fanden dort so enorme Grausamkeiten vor, dass der normale menschliche Verstand sie nicht begreifen kann. Dachau und Tod waren gleichbedeutend“, wird William Wilson Quinn, stellvertretender Stabschef (Assistant Chief of Staff) des Militär-Nachrichtendiensts G-2 der 7. US-Armee, in dem Bericht zitiert.
17 Uhr: Wie viel wussten die Menschen in Deutschland von den Verbrechen in Konzentrations- und Vernichtungslagern? Wie viel wusste zum Beispiel der 70-jährige Justus Pabst? In seinem Manuskript, das sich ja auf die Endphase des Krieges in Brambauer beschränkt, hat er dazu nichts geschrieben. Sicher ist aber, dass niemand, der Teil der deutschen Bevölkerung ist, nichts wissen kann von der Unterdrückung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung im NS-Deutschland seit 1933. Enteignung, Vertreibung, Deportation, Ermordung, Demütigung – genauso wie im Rest Deutschlands ist das auch für jüdische Lünerinnen und Lüner seit der Machtergreifung der Nationalsozialismus Realität. Trauriger Höhepunkt: der 9. November 1938. Auf dem Marktplatz brennt da das Mobiliar der vorher verwüsteten Synagoge, Schaufenster jüdischer Geschäfte sind eingeschlagen. Die SS treibt die beiden Lüner Juden Waldemar Elsoffer und Hermann Aronstein vom Marktplatz aus zum Lippeufer – und zwingt sie, in das eiskalte Wasser zu gehen. Waldemar Elsoffer ertrinkt. Nur ein Beispiel der zahllosen Verbrechen der Deutschen.
18 Uhr: Wie Justus Pabst dazu steht? Das bleibt bis zu einem gewissen Maß nur Spekulation. Jedoch: In seinen Reflexionen zum Ende des Krieges sind die Alliierten die „Feinde“ – und nicht die Befreier. „Der deutsche Soldat ist einmalig“, schrieb er mit seiner Schreibmaschine – strich das Wort „ist“ dann aber durch und ersetzte es durch ein „war“. „Er ist weder von Russland, noch von England oder Amerika besiegt worden. Er ist der Übermacht der zusammengeballten Feindmächte, insbesondere ihrem Material erlegen. Unsere Feinde haben es nicht nötig, auf einen solchen Sieg stolz zu sein. Das wird die Geschichte einstmal bestätigen“, schreibt er ziemlich linientreu.
19.30 Uhr: Vier Flugzeuge kreisen über Brambauer. Wieder fallen Bomben und Schüsse.
23.30 Uhr: Die Beschießung setzt wieder ein. „In einem Maße, wie wir sie noch nicht erlebt hatten“, so Justus Pabst. Sie wird mit kurzen Pausen die ganze Nacht und bis in die Morgenstunden andauern.
8. April: „Der Aufenthalt im Keller ist schrecklich“
6.20 Uhr: Endlich hören die Schüsse auf. Die ganze nach hat es gedonnert und geknallt, am Morgen ist dann endlich Ruhe.
11 Uhr: Der Vormittag an diesem Tag ist ruhig, schreibt Justus Pabst. „Wir konnten etwas nachschlafen.“ Mal wieder hatte er die Nacht ja zum Schutz vor der Beschießung im Keller verbracht.
12 Uhr: Zum Mittagessen gibt es wieder die gute Suppe der Nachbarin. „Wir essen seit vier Tagen abends nur Kartoffeln mit etwas Soße“, schreibt Justus Pabst. Dieser Tag scheint trüb in der Beschreibung des Brambauers. „Wir frieren sehr, wahrscheinlich deshalb, weil wir nun die fünfte Nacht nicht mehr geschlafen, auch nichts Ordentliches mehr gegessen haben. Flieger kreisen über uns, zeitweilig setzt Beschuss ein. Es herrscht Winterkälte. Der Aufenthalt im Keller ist schrecklich.“
13 Uhr: Bis 13 Uhr ist Feuerpause – und damit Ausgang. „Später auf eigene Gefahr“, schreibt Justus Pabst. Gefahr – seine Bilder wirken so, als hätte Justus Pabst die in den vergangenen Kriegsjahren nicht unbedingt gescheut beim Fotografieren. Da sind die Fotos, die er von den heranrollenden Panzern gemacht hat. Im Archiv der Stadt Lünen finden sich aber auch unzählige andere Bilder, die Justus Pabst während des Krieges aufgenommen hat. Sie zeigen nicht nur unzählige zerstörte Gebäude. Sondern auch Tote. 1944 wagt sich Justus Pabst zu einem in Brambauer abgeschossenen amerikanischen Flugzeug. Der Pilot liegt davor, er ist tot. Justus Pabst drückt auf den Auslöser.

15 Uhr: Den ganzen Tag über kommt es wieder zu Beschuss. „Das Signalschießen vom Kasionohof aus ist ohrenbetäubend“, schreibt Justus Pabst. Mehrmals am Tag hört er es von seiner Wohnung aus.
20 Uhr: Auch am Abend setzt wieder Beschuss ein. „An Schlaf war dann nicht zu denken“, so Justus Pabst. „Wir verbrachten die Nacht völlig angekleidet, sogar in Mänteln. Der starke Beschuss zwang uns bis 24 Uhr in den Keller.“
9. April: „In der Elsa-Brändström-Straße lag ein toter Mann“
8 Uhr: Es ist wieder mal kein schöner Morgen in Brambauer. „Wir waren von der letzten Nacht wie gerädert“, schreibt Justus Pabst. Es dauert nicht lange, bis das Kriegstreiben weitergeht.
9 Uhr: Mit starkem Getöse setzt wieder Signalschießen ein.
11 Uhr: Es ist nichts mehr zu Essen im Hause. Justus Pabst beschließt, etwas zu besorgen – und dafür das Haus zu verlassen. „Ich wollte selbst etwas vom Fleischer besorgen, weil Fräulein Ebbinghaus, meine Haushälterin, sich vor dem Betreten der Straße fürchtete. Ich bekam aber auf die neu ausgegeben Marken nichts, weil sie angeblich noch nicht aufgerufen waren. Die Bevölkerung konnte also, einer Formalität wegen, hungern. Ein guter Bekannter half uns mit Brot und etwas eingewecktem Fleisch aus. Die Freude meiner Haushälterin war groß“, schreibt Justus Pabst.
11.30 Uhr: Fleisch bekommt er zwar nicht bei seinem Gang aus dem Haus – dafür aber ein paar Informationen und Eindrücke. „Die Straßen sind kaum passierbar“, schreibt er. „In der Elsa-Brändström-Straße lag ein toter Mann, er war mit Papier zugedeckt worden. Es wurde mir erzählt, dass vielen Menschen die Kartoffeln aus den Kellern geholt worden sind. Der Bauer Brügmann wurde von seinem Hof vertrieben, der Bauernhof Große-Öttringhaus am Mühlenteich ging durch den Beschuss in Flammen auf. Aus dem Zechenmagazin wurden Zigaretten und Schnaps von den Amerikanern herausgeholt. Es wurde erzählt, angetrunkene Soldaten hätten Frauen und Mädchen im Stollen belästigt“, schildert Justus Pabst, was auf der Straße so an Gerüchten hört.

12 Uhr: Wieder kommen zwei amerikanische Soldaten und ein Sanitäter in die Wohnung von Justus Pabst – sie wollen ein Musikinstrument holen, das sie bei einem der letzten nächtlichen Besuche vergessen hatten. Als sie gerade die Wohnung betreten, setzt Beschuss ein – von deutscher Seite. „Weil sie sehr ängstlich waren, nahm ich die amerikanischen Soldaten mit in den Keller“, schreibt Justus Pabst.
12.11 Uhr: Es dauert nicht lange, da erklingen nach den ersten Explosionen laute Hilferufe vom nahe gelegenen Kasino der Zeche her. „Wir konnten keine Hilfe bringen, weil der Beschuss weiterging. Der Sanitäter hätte, selbst wenn er den Keller verlassen haben würde, nicht helfen können, weil er kein Verbandszeug bei sich hatte.“
13 Uhr: Erst in einer Feuerpause wird klar, von wem die Hilferufe stammten. Vier Frauen und ein Junge sind bei dem Beschuss schwer verletzt worden. Justus Pabst beobachtet, wie sie abtransportiert werden. Justus Pabst macht das wütend. „Der Beschuss von Brambauer zu dieser Tageszeit durch unsere Soldaten bleibt unverständlich. Es musste ihnen bekannt sein, dass das Betreten der Straße zu dieser Stunde freigegeben worden war, damit die Einkäufe getätigt werden konnten. So konnte es geschehen, dass Deutsche ihre deutschen Brüder und Schwestern töteten.“
14 Uhr: Der Krieg ist verloren, die Menschen in Deutschland sehen das zu diesem Zeitpunkt schon sehr klar. Warum wird eine Stadt wie Lünen dann noch so hart verteidigt? Justus Pabst ist das unbegreiflich. „Der Wahnsinn der Verteidigung von Brambauer, entsprungen in den Gehirnen ehrgeizverseuchter und größenwahnerfüllter Nazi-Usurpatoren, trug eine Früchte“, schreibt er in seinen Bericht.
15.30 Uhr: In Brambauer laufen also seit Tagen harte Kämpfe. Wie sieht es im Rest von Lünen aus? Auch da tut sich etwas. „Nach der Einnahme vom Hamm stießen die Amerikaner in südwestlicher Richtung auf Kamen vor. Auch bei Werne überschritten die amerikanischen Panzer die Lippe Richtung Süden“, erklärt Historiker Fredy Niklowitz im Buch „Lünen, 1918-1945“. Außerdem wird die deutsche Frontstellung in Lünen am 9. April 1945 weiter nach Süden verlegt. Etwas, das die Menschen in Brambauer in den nächsten Tagen merken werden.
17 Uhr: Starkes Maschinengewehrfeuer setzt ein.
20 Uhr: Mal wieder stellen sich Justus Pabst und seine Haushälterin Frau Ebbinghaus auf eine Nacht ohne Schlaf ein. Wegen der starken Signalschießerei finden sie wenig oder gar keine Ruhe.“
10. April: „Die Türen bebten, das Haus zitterte“
8 Uhr: Schon wieder Beschuss in Brambauer. „Von unserer Seite“, wie Justus Pabst schreibt. Schon früh geht es also wieder in den Keller für ihn und Fräulein Ebbinghaus.
10.40 Uhr: Die „feindliche Seite“ erwidert den Beschuss. „Die Türen bebten, das Haus zitterte.“
11.30 Uhr: Endlich tritt Ruhe ein, schreibt Justus Pabst. „Das Kasino erhielt einen Volltreffer, wir hörten das Rasseln der herunterstürzenden Dachpfannen. Flugzeuge überflogen uns.“
14 Uhr: In Brambauer hört man starken Beschuss – dieses Mal aber ein bisschen weiter weg. Zwischen Mengede und Rauxel, schreibt Justus Pabst.
16 Uhr: Was Justus Pabst, festsitzend in seiner Wohnung in Brambauer, an diesem Tag noch nicht weiß: Die Kämpfe in Brambauer werden nun nicht mehr lange andauern. Und im Rest der Stadt tut sich auch etwas. Am 10. April 1945 sind die amerikanischen Truppen über Oberaden in den östlichen Teil Horstmars zwischen Lippe und Seseke eingedrungen. „Von hieraus rücken sie nach Lünen-Mitte vor, wo sie über die Dortmunder Straße kommend gegen 16 Uhr mit zwei Panzern auf dem Adolf-Hitler-Platz (heute Spormeckerplatz) erschienen und vor dem Stadthaus Stellung bezogen. Besondere Kampfhandlunge hat es hierbei nicht gegeben.“
16.20 Uhr: Die amerikanischen Besatzer kommen wieder in die Wohnung von Justus Pabst und durchsuchen alles. „Sie suchten ein Telefon und stießen auch der Suche nach einem solchen im Keller auf eine Akkumulator-Ladevorrichtung, deren Zweck sie sich nicht erklären konnten, und die ihren größten Verdacht erregte. Ihren Verdacht erregte aber auch das Kabel zu einem elektrischen Heizofen, das Veranlassung zu einer längeren Diskussion zwischen beiden Soldaten gab. Sie sahen von einer Beschlagnahmung der beiden Gegenstände ab.“
18 Uhr: Der Frust ist groß bei den Menschen in Brambauer. So klingt es zumindest in den Aufzeichnungen von Justus Pabst. Anders als in Mitte kommt es nämlich weiter zu Kampfhandlungen an diesem Tag, es ist noch nicht vorbei. „Nun sitzen wir schon tagelang in unserer Küche und im Keller fest, alle anderen Räume sind unbewohnbar.“ Der Blick in die Zukunft ist recht hoffnungslos und vor allem von Angst erfüllt. „Gedemütigt, vor Scham vergehend, im eigenen Hause entrechtet, nicht mehr Herr seines Eigentums, so erwarten wir die nächsten Stunden, Tage und Wochen, vorbereitet auf noch schlimmere Zeiten als die, die uns schon betroffen haben. Möge Gott sich uns aller erbarmen.“
21.30 Uhr: Wieder erklingt das „entsetzliche Signalschießen“. „Das Licht einer Wetterlampe war zu kärglich, als dass es Anreiz zu längerem Aufbleiben bot. So begeben wir uns um 21.30 Uhr zur Ruhe, soweit man von Ruhe überhaupt sprechen kann. Wir sind klein und anspruchslos geworden, wir gehen durch ein Nadelöhr. Wir müssen diese Zeit und die letzten Jahre als doppelt und dreifach gelebt in Rechnung stellen.“
11. April: Der Tag des Kriegsendes in Lünen
9.20 Uhr: Wieder stehen amerikanische Soldaten in der Wohnung von Justus Pabst. Schwer bewaffnet, wie er schreibt. „Sie sahen sich in der Vorderstube um und verschwanden dann wieder.“
10 Uhr: Justus Pabst und die anderen Bewohnerinnen und Bewohner Brambauers hören immer noch Bomben und Beschuss – jetzt aber eher ein bisschen weiter weg. „Es ist im Allgemeinen etwas ruhiger geworden“, schreibt Justus Pabst. Er vermutet richtig. „Es muss eine Verlegung der Front eingetreten sein.“ Genau das war am Vortag ja erfolgt, wie wir aus den Geschichtsbüchern wissen.
13.34 Uhr: So klar, wie das in der Rückschau zu sagen ist, ist es für Menschen wie Justus Pabst am 11. April 1945 nicht. Aber: Der Krieg endet an diesem Tag in Lünen. Die ganze Stadt (auch Lünen-Süd und Horstmar) ist nun von amerikanischen Spähtrupps besetzt. Nur in Niederaden kommt es bei der Einnahme vom „Rest der Stadt“ noch zu Kampfhandlungen: Dort schlägt den Amerikanern beim Einzug aus dem Bereich südlich der Autobahn Gewehr- und Maschinengewehrfeuer entgegen.
Über die genauen Entwicklungen in dieser Endphase des Krieges bleibt Justus Pabst zunächst einmal im Dunklen. „Wir erfahren nichts Näheres“, schreibt er recht frustriert. „Wir stehen abseits des Weltgeschehens und werden durch dasselbe doch so stark in Mitleidenschaft gezogen.“
Die Zeit in Lünen bis zur Kapitulation
Nach dem 11. April beginnt für Justus Pabst wieder ein bisschen Alltag. Er geht wieder täglich in sein Büro in der Zeche, auch wenn er dort wegen der Kälte wenig arbeiten kann. Auch seine Haushälterin wagt sich wieder auf die Straße und das Signalschießen hört endlich auf. Am 14. April schreibt Justus Pabst: „Heute Morgen herrscht eine beglückende Ruhe. Das Kriegsgetümmel in seinen verschiedensten Formen ist abgeebbt, die Menschen besinnen sich langsam wieder auf sich selbst.“
Mit der Ruhe kommt die Reflexion. Die deutsche Bevölkerung sei „belogen worden“, schreibt Justus Pabst, der ja, das wird auch in den folgenden Worten klar, eben auch ein Mitläufer im Nazi-System und alles andere als ein Widerstandskämpfer war. „Mag Hitler Idealen nachgejagt, man er vieles Gute geschaffen haben, er hat uns trotz allem in das größte Unglück aller Zeiten gestürzt. Die Geschichte wird urteilen und ihn verurteilen. Er war, trotzdem er sich anders gab, ein schwacher Mensch. In unglaublicher Verblendung hat er Deutschland n Schimpf und Schande gestürzt, ein Elend, das vielleicht in den Zeiten den Dreißigjährigen Kriegs eine Parallele findet.“
Am 17. April 1945 gibt es im Ruhrkessel keinen Widerstand mehr, die Deutschen haben auch hier aufgegeben. Es dauert noch bis zum 8. Mai, bis der Krieg ganz beendet ist und das Deutsche Reich bedingungslos kapituliert. „Im Zuge der Zonenaufteilung durch die Besatzungsmächte wurden im Juni 1945 die amerikanischen Einheiten in Lünen von britischen Besatzungstruppen abgelöst“, heißt es im Lünen-Buch.