Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist ursprünglich im August 2024 erschienen. Wir haben ihn erneut veröffentlicht.
Die Sache mit Branko beschäftigt Rosemarie Dyck. Das merkt man ihr an. Sie muss schlucken, wenn sie heute darüber spricht, was schwierig in Worte zu fassen ist. „Ja, das mit Branko“, sagt sie. Dann überwindet sie sich schließlich: „Er hat versucht, seine Mutter mit einem Beil zu erschlagen.“ Wann genau das war, weiß die heute 85-Jährige nicht mehr. Nur noch, dass damals niemand wusste, warum der Jugendliche diese fürchterliche Tat begehen wollte. Und dass dabei vermutlich der Drogenkonsum von Branko eine Rolle spielte.
Jugendliche Straftäter wie Branko zu begleiten, das war etwas mehr als zehn Jahre der Job von Rosemarie Dyck. Sie haben gestohlen und überfallen. Manche haben sogar gemordet oder versucht jemanden umzubringen, so wie Branko. Fast 45 Jahre ist es her, dass die frühere Lünerin ihre letzte Schicht als Jugendgerichtshelferin absolvierte. „Zwischen 1978 und 1980 muss das gewesen sein“, vermutet sie. Als Jugendgerichtshelferin betreute sie in den 1970er-Jahren für das Jugendamt der Stadt Lünen jugendliche Straftäter. Ging mit ihnen zum Amtsgericht, suchte den Kontakt zu ihren Familien und versuchte die Jugendlichen zurück auf den richtigen Weg zu bringen.
Ehemalige Jugendgerichtshelfer trafen sich im Ringhotel
Um die alten Zeiten aufleben zu lassen, haben Rosemarie Dyck und andere ehemalige Jugendgerichtshelfer sich im Sommer im Ringhotel in Lünen wiedergetroffen. Dabei betonten sie vor allem den Zusammenhalt, der ihnen dabei half, ihren nicht immer leichten Job zu erledigen – Fälle wie den mit Branko zu verarbeiten.

Soziale Ader in jungen Jahren
1939 wurde Rosemarie Dyck in Essen geboren. Das Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg begann. Sie erinnert sich mit Schrecken an die Luftangriffe, an Nächte im Luftschutzkeller, daran, dass ihre Familie ausgebombt wurde. Nach dem Krieg zog Dyck mit ihren Eltern nach Lünen, machte den Realschulabschluss an einer Schule in Werne. Ihre soziale Ader bemerkte Rosemarie Dyck schon in jungen Jahren. Als Jugendliche war sie ehrenamtlich in der Lüner Herz-Jesu-Gemeinde aktiv, organisierte etwa Jugendfreizeiten.
Warum sie Jugendgerichtshelferin wurde? Der Berufswunsch kam auf, während sie ehrenamtlich in der Herz-Jesu-Gemeinde tätig war, erinnert sich die 85-Jährige. „Ich hatte damals Kontakt zu einer Frau, die Jugendgerichtshelferin war“, erzählt sie. Dyck faszinierten ihre Aufgaben, faszinierte es, wie sie sich um die straffälligen Jugendlichen kümmerte. Ihr wurde klar: auch sie wollte junge Straftäter im Gefängnis besuchen. Sie wollte ergründen, warum die Jugendlichen auf die schiefe Bahn geraten sind. Sie wollte die Jugendlichen vor Gericht begleiten und Kontakt mit den Familien aufnehmen, das soziale Umfeld kennenlernen. Und vor allem wollte sie ihnen dabei helfen, den Weg in die Gesellschaft zurückzufinden.

Ihr Weg zur Jugendgerichtshelferin startete in verschiedenen sozialen Einrichtungen. So arbeitete sie etwa kurzzeitig in einem Fürsorgeerziehungsheim in Göttingen. Dann ging es nach Münster. Dort studierte Rosemarie Dyck von 1964 bis 1968 Soziale Arbeit. 1968 begann schließlich ihren Job als Jugendgerichtshelferin. Und später, als sie Ende der 1970er Lünen der Liebe wegen den Rücken kehrte, arbeitete sie weiter im sozialen Bereich. Damals zog sie ins niedersächsische Sulingen, etwa 50 Kilometer südlich von Bremen, lebt dort heute noch. Ihrer ehemaligen Heimat ist sie aber nach wie vor verbunden – hat Freunde und Familie in Lünen.

Noch lange Kontakt zu Branko
Und Branko? Rosemarie Dyck begleitete den Jungen vor Gericht. Der kam erst einmal in die Jugendpsychiatrie, erzählt sie. Und wurde dann zu vielen Jahren Jugendstrafe verurteilt. Zu besonderen Anlässen, etwa an den Weihnachtsfeiertagen durfte Branko nach Hause, unter der Aufsicht von Dyck. Sie musste darauf achten, dass der Jugendliche anschließend zurück in die Haftanstalt ging. Dyck baute mit Branko ein Vertrauensverhältnis auf. Und das trotz seiner Taten. „Er machte irgendwann seinen Schulabschluss, hat dann sogar eine Berufsausbildung absolviert.“
Bis heute kann sich Rosemarie Dyck nicht erklären, warum Branko seine Mutter umbringen wollte. Immerhin: Mutter und Sohn konnten trotz des Vorfalls wieder ein gutes Verhältnis zueinander aufbauen.
Kurz nach Ende seiner Haftstrafe zog es Branko zurück nach Slowenien, in die Heimat seiner Eltern. „Ob er jetzt noch lebt, weiß ich nicht“, erzählt Dyck. „Bis vor ein paar Jahren hatte ich noch Kontakt mit ihm, aber der ist inzwischen leider abgebrochen.“