Lüner Arzt impft „aus Gewissensgründen“ nicht mehr gegen Corona Prof. Watzl: „Das ist fahrlässig“

„Mit Gewissen nicht vereinbaren“: Karad impft nicht mehr gegen Corona
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Leuchtend rot springt die Schrift allen entgegen, die die Homepage der Lüner Gemeinschaftspraxis auf der Ecke Borker Straße/Cappenberger Straße besuchen: „Keine weitere mRNA-Impfung mehr gegen Covid“ ist dort zu lesen. Auch wenn die Ständige Impfkommission (Stiko) und das Robert-Koch-Institut (RKI) es empfehlen: Er könne es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, „einen solchen sogenannten Impfstoff zu verabreichen“, teilt Dr. Karsten Karad wenige Klicks weiter mit. „Gefährlich fahrlässig“ findet das der Immunologe Prof. Dr. Carsten Watzl aus Dortmund - auch mit Blick auf das jüngste Infektionsgeschehen.

Kurz vor Weihnachten husten und schniefen so viele Menschen in Deutschland wie schon lange nicht mehr. Wie das Robert-Koch-Institut (RKI) mitteilt, litten in der dritten Adventswoche 7,9 Millionen Menschen in Deutschland unter einer akuten Atemwegserkrankung. Das ist rund jeder zehnte. In der Vorwoche lag die Zahl noch bei 7,1 Millionen. Tendenz: weiter steigend. Ein Viertel dieser akuten Atemwegserkrankungen gehen laut RKI auf das Coronavirus zurück. Seit Mai 2023 gilt die weltweite Pandemie zwar als offiziell beendet. Gänzlich ungefährlich sei Corona dadurch aber noch nicht geworden, so Immunologe Watzl.

Risikogruppe ab 60 Jahre

„Inzwischen schützt uns zwar eine gute Grundimmunität“ aufgrund der Impfungen und überstandener Infektionen, erklärt der Dortmunder Arzt. Der Verlauf von Corona-Infektionen liege aber „immer noch auf Grippe-Niveau und nicht auf Schnupfen-Niveau“. Schwere Verläufe seien zwar deutlich seltener als zu Beginn der Pandemie, es gebe sie aber immer noch. Gefährdet seien besonders Menschen mit Vorerkrankungen, geschwächtem Immunsystem und Hochbetagte. Deshalb empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) aktuell besonders Personen über 60 Jahren und chronisch Kranken eine Corona-Auffrischimpfung, also Menschen, die das Gros des Patientenstammes einer Hausarztpraxis ausmachen. Ihnen die Impfung vorzuenthalten, macht Watzl fassungslos.

Hippokratischer Eid

Der Lüner Allgemeinmediziner Dr. Karsten Karad, der auch Homöopathie, Naturheilverfahren Akupunktur, Chirotherapie und Sportmedizin anbietet, nennt auf der Praxis-Homepage zwei Gründe für seine Entscheidung. Erstens: „Die mRNA-Spritze schützt Sie nicht zuverlässig vor einer Infektion mit Corona/Covid19“ und zweitens: „Die mRNA-‘Impfung‘ birgt das Risiko von zum Teil schweren Nebenwirkungen.“

Und dann wieder in roten Lettern: „Wir werden daher keine weiteren ,Impfungen‘- auch nicht mit dem ,neuen‘ gentechnisch hergestellten mRNA-Impfstoff – durchführen!“ Er fühle sich als Arzt dem Hippokratischen Eid verpflichtet, schreibt Karad. Dabei gehe es darum, sich „zum Nutzen der Kranken“ einzusetzen und nicht „Verordnungen zu treffen zu verderblichem Schaden und Unrecht“. Er könne daher die aktuellen Corona-Impfungen nicht mit seinem Gewissen vereinbaren.

Ob diese Impfweigerung mögliche berufsrechtliche Folgen haben kann, lässt die zuständige Ärztekammer Westfalen-Lippe gerade prüfen. Dass sich die Lüner Gemeinschaftspraxis, die Karad zusammen mit Marius Dudek betreibt, nicht nur gegen den Rat von Gesundheitsminister Lauterbach wendet, sondern auch gegen die Empfehlungen des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), ist offensichtlich.

COVID-19-Schutzimpfungen sind seit dem 8. April 2023 Teil der Regelversorgung für gesetzlich Krankenversicherte. KBV-Chef Dr. Andreas Gassen hatte laut der Ärztezeitung Mitte November an die Risikogruppen appelliert, der Impfempfehlung nachkommen, um sich zu schützen – auch gegen Influenza. Die Impfungen könnten kombiniert werden, so Gassen. Bei Karad hört sich das ganz anders an.

Die Mär vom „Turbo-Krebs“

„Immer mehr Nebenwirkungen zu den mRNA-Impfungen werden bekannt“, ist auf der Seite der Gemeinschaftspraxis zu lesen. Die Rede ist dort vom „plötzlichen Herztod von jungen Geimpften, vor allem auch bei Leistungssportlern, bis hin zu vermehrten Krebsfällen (und ,Turbokrebs‘)“. Beispiele, die Prof. Carsten Watzl die Haare zu Berge stehen lassen. „Das ist Panikmache“, sagt er. Und alles andere als fachmännisch.

Den Begriff „Turbokrebs“ gibt es in der Medizin nicht: ein erfundener Begriff, der laut RKI immer wieder in sogenannten Impfmythen auftaucht. Das Schüren von Ängsten sei „eine gezielte Strategie von Impfgegnern“. Dafür gebe es „keinerlei wissenschaftliche Grundlage“. Dennoch halten sich Behauptungen rund um das angeblich neue Krankheitsbild hartnäckig auf sogenannten alternativen Medien wie Apolut, der Online-Plattform aus dem Umfeld des Verschwörungsideologen Ken Jebsen, oder Uncut-News, ein Verschwörungsportal aus der Schweiz, das Propaganda für Putin macht. Beide nennt Karad als Quellen für seine eigenen umfangreichen Ausführungen auf der Homepage.

Prof. Dr. Carsten Watzl leitet den Bereich Immunologie am Dortmunder Leibniz-Institut für Arbeitsforschung.
Prof. Dr. Carsten Watzl leitet den Bereich Immunologie am Dortmunder Leibniz-Institut für Arbeitsforschung. © Oliver Schaper (A)

Darin geht es nicht nur um „nutzlose Impfungen“, sondern auch um „nutzlose“ und sogar „gesundheitsschädliche Masken“. Und um das Große-Ganze: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), ist dort zu lesen, „versucht nicht menschliches Leid zu lindern, vielmehr bemüht sie sich, menschliches Leid zu verschlimmern“. Sie habe etwa geholfen, den Ursprung der Pandemie zu vertuschen. „Das Virus wurde in einer gemeinsamen amerikanisch-chinesischen Zusammenarbeit im Labor in Wuhan hergestellt.“

Desinformation und AfD-Nähe

Woher Karad das alles weiß? Er verweist auf den „weltweit renommierten Kardiologen Dr. Peter McCullough“, der „im Rahmen einer EU-Anhörung am 13. September 2023 zum Thema Corona-Impfkampagne“ sprach. Was der Lüner Arzt nicht sagt: Der Professor aus Texas hat während der Pandemie vor allem deshalb von sich Reden gemacht, weil er Desinformation über Corona verbreitet hat und ein Verbot der Impfstoffe gefordert hatte. Und die Anhörung im September war nicht etwa ein offizieller Termin des Europa-Parlaments, sondern die Einladung einer Hand voll Parlamentarier. Die Videoaufzeichnung auf YouTube zeigt McCullough vor dem Schriftzug „Demokratie und Identität“. So heißt die Fraktion rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien im Europaparlament, deren Mitglied seit Ende Juli 2023 auch die deutsche AfD ist.

Die Nähe zum politischen Rechtsaußen ist Karad bewusst. „Ja, mir tut es auch leid, dass nicht die Regierungsparteien diesen renommierten Wissenschaftlern eine Bühne gegeben haben“, schreibt er mit Verweis auf das Corona-Symposium im Bundestag, das die AfD Mitte November organisiert hatte. Als „renommiert“ bezeichnet er nicht etwa Carsten Watzl oder Mitglieder des Corona Experten-Gremiums der Bundesregierung wie Lothar Wieler, Christian Drosten oder Hendrik Streeck, sondern Ikonen der Corona-Kritiker-Szene wie den Mediziner und Mikrobiologen Sucharit Bhakdi und den Ökonom Stefan Homburg, beide inzwischen im Ruhestand. Und beide davon überzeugt, von verlogenen Eliten, korrumpierten Wissenschaftlern und gleichgeschalteter Presse umgeben zu sein. Karsten Karad sieht das ganz ähnlich.

„Mainstream-Gesülz“

Auf Fragen der Redaktion antwortete er nicht. Er sei schon einmal Opfer einer „Schmierenkampagne“ geworden, teilt er lediglich mit. Im Juli 2020 - also fast ein halbes Jahr vor Beginn der Impfungen - hatte die Redaktion kritisch über Karads Zweifel an einer zweiten Infektionswelle und seine Forderung nach einer „Rückkehr zur Normalität“ berichtet. Für ihn ein Beispiel für „regierungskonformes Mainstream-Gesülze auf Grund der Zensur“. Er dagegen liefert nach eigenen Angaben „faktenbasierte“ und „brisante“ Informationen. Einige davon kursieren seit Beginn der Adventszeit nicht nur in Impfkritiker-Kreisen, sondern sorgen bundesweit für Unruhe - aufgrund eines gefälschten Schreibens.

Der gefälschte Brief

Der Absender: eine Gruppe namens „Medizinischer Behandlungsverbund“. Die Empfänger: Arztpraxen und Apotheken bundesweit. Der Inhalt: eine Warnung vor angeblichen Haftungsrisiken bei der Verwendung der aktuellen Corona-Impfstoffe aufgrund von Verunreinigungen mit DNA. Das Schreiben ist aufgemacht wie ein sogenannter Rote-Hand-Brief, die in Deutschland gebräuchliche Form eines Informationsschreibens, mit dem pharmazeutische Unternehmen heilberufliche Fachkreise offiziell informieren. Eine Fälschung, wie das für Impfstoffe und Arzneimittel zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) am 5. Dezember klarstellte: „Das Schreiben ebenso wie die dort abgeleiteten Schlussfolgerungen sind falsch.

Auf der Lüner Praxis-Homepage bleibt der Vorwurf, dass der mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer über jeden Grenzwert hinaus verunreinigt sei, dagegen unwidersprochen. Dort ist zu erfahren, dass die mögliche DNA-Kontamination Folge der „schockierenden“ Änderung im Herstellungsverfahrens des Impfstoffs vor der Markteinführung war.

„Unsere beste Waffe“

Der Hinweis, dass in beiden Herstellungsverfahren - sowohl in dem für die klinische Prüfung als auch in dem für die spätere Massen-Produktion - DNA verwendet wird, fehlt. Karad jubelt auf seiner Facebook-Seite zwar, dass mit dem MDR „jetzt sogar schön der öffentliche Rundfunk“ über diese Zusammenhänge berichtet („die Lügengeschichten lassen sich nicht mehr verheimlichen“).

Aber er verschweigt, was der dort zitierte Molekularbiologe tatsächlich sagt: „DNA in Impfstoffen ist kein neues Thema und wird beispielsweise bei einem Grippeimpfstoff auch getestet. Das hat bisher niemanden interessiert, beziehungsweise man vertraut richtigerweise darauf, dass das Paul-Ehrlich-Institut als zuständige Behörde die Prüfarbeit korrekt erledigt.“ Und weiter: „Meines Erachtens zeigt das, dass es hier nicht um DNA in Impfstoffen geht. Sondern entweder, Impfungen, unsere beste Waffe gegen Infektionskrankheiten, grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, oder Stimmung zu machen mit dem Thema Corona.“

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