Der Countdown läuft. Ende Mai geht eine Ära zu Ende. 43 Jahre war die Lippe Buchhandlung Lünen inhabergeführt von der Familie Vakilzadeh eine Institution in Lünen. Am vergangenen Donnerstag (11.4.) fand die letzte Lesung statt.
Sichtlich bewegt verabschiedete sich Heidi Vakilzadeh, die vor 29 Jahren die Geschäftsführung von ihren Eltern übernommen hatte, von ihren Kunden und Gästen: „Es war eine schöne Zeit, und ich möchte keinen Tag davon missen. Aber jetzt ist für mich der richtige Zeitpunkt, mich zu verabschieden, um neue Ideen zu entwickeln und mich neuen Herausforderungen zu stellen.“
Um einen herausragenden Schlusspunkt für die Reihe der Lesungen zu setzen, war ihre Wahl auf den in Landshut lebenden Schriftsteller Titus Müller und dessen Roman „Nachtauge“ gefallen. „Da ich die Vorlieben meiner Gäste kennengelernt habe, wollte ich ihnen einen spannenden Abend mit lokalen Bezügen, historisch verankert und doch hochaktuell bieten“ erklärte Vakilzadeh.
Schon als der Autor gekonnt akzentuiert die ersten Auszüge aus seiner Erzählung vorlas, stellte sich bei den Zuhörenden die erwarte Spannung ein. Sie wurden zurückversetzt in das Jahr 1943, als der Lagerleiter Georg Hartmann aus einer Gruppe deportierter Ukrainerinnen neue Arbeitskräfte für die Munitionsfabrik in der Nähe der Möhnetalsperre rekrutierte
Unrealistische Tatsachen
Dabei erlangte die rothaarige Nadjeschka seine besondere Aufmerksamkeit. „Die hier sich trotz aller Widrigkeiten entwickelnde Liebe hat mich bei der Quellenforschung so fasziniert, dass sie mir den Anstoß für den Roman lieferte. Und gerade diesen Teil, der auf Tatsachen beruht, halten viele Leser für unrealistisch, andere Teile, die rein fiktiv sind, sehen sie reale Tatbestände an“, berichtete der Autor.

In Laufe des Abends stellte Müller dem Publikum die verschiedenen Handlungsstränge des Romans vor: das Wirken der deutschen Spionin „Nachtauge“, die Darstellung des Kriegsalltags, die Beschreibung der Flutkatastrophe an Möhne und Ruhr, den Gestapo-Offizier, der nach Quälerei und Morden an Gefangenen zu Hause als normaler, wenn auch autoritärer Familienvater auftrat.
Methoden der Geheimdienste
Immer wieder ließ der Autor das Publikum an den Ergebnissen seiner Recherchen teilhaben und beschrieb die historischen Hintergründe. So erfuhren die Gäste, mit welcher Technik und welchen Trainingsmethoden es den Engländern gelang, die Staumauer der Möhne zu zerstören.
Er zeichnete die menschenverachtende Ideologie der Nazis nach, beschrieb an Beispielen Arbeit und die Methoden der Geheimdienste und meinte: „Wer sich damit befasst, beginnt an James Bond zu glauben.“ Müller ließ erkennen, wie viel Spaß ihm die Recherchearbeit gemacht hat und wie er durch seine Lesungen aus dem Publikum immer wieder Anregungen und Informationen erhält.

So erlebten die mehr als 60 Gäste einen Abend, der viel mehr war als eine normale Autorenlesung. Neugierig geworden, erwarben mehrere von ihnen den Roman mit einer persönlichen Widmung des Autors. Und damit sie nicht mit zu viel Wehmut bezüglich des bevorstehenden Endes der Lippe Buchhandlung nach Hause gehen, verriet Heidi Vakilzadeh, dass es eventuell noch einen Hoffnungsschimmer bezüglich eines Nachfolgers bzw. einer Nachfolgerin gibt. Und vielleicht wird dann ja auch die Tradition der Lese- und Vortragabende fortgesetzt.
