Kim Schmid aus Lünen leidet unter ME/CFS „Einen normalen Tag gibt es bei mir nicht mehr“

Kim Schmid leidet unter ME/CFS: „Einen normalen Tag gibt es bei mir nicht mehr“
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Kim Schmid kämpft. Für sich selbst „und für alle anderen Betroffenen, die es selbst nicht mehr können“, sagt sie. Für Aufmerksamkeit und für Spendengelder, die in die Entwicklung eines Medikaments fließen sollen. Dafür beißt sie öffentlich in Zitronen, organisiert eine internationale Konferenz und spricht mit Fernsehen und Zeitung. Und das, obwohl es eigentlich nicht ihrem Wesen entspricht, im Rampenlicht, in der Öffentlichkeit, zu stehen. Doch zu wichtig ist ihr Anliegen: „Ich würde gerne erreichen, dass die Pharmaindustrie und die Forschung und die Politik zusammenarbeiten und irgendein Medikament auf den Markt bringen, das 14 Millionen Menschen weltweit – ohne Dunkelziffer – heilt. 14 Millionen Menschen, die einfach verschwinden.“

Kim Schmid ist 38 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern, sechs und acht, wohnhaft in Lünen und sie ist krank. Seit zweieinhalb Jahren. Und falls kein Medikament entwickelt wird, voraussichtlich für immer. Im Sommer 2022 steckte sie sich durch einen Zufall mit Covid-19 an. Daraus erwuchs dann eine Krankheit, die den komplizierten Namen „Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome“ oder kurz ME/CFS, trägt. Auslöser für die bereits seit 1969 gelistete Krankheit sind Viruserkrankungen; seit 2020 gilt verstärkt Covid-19 als Ursache.

Auf die Frage, wie es ihr geht, findet die Lünerin keine leichte Antwort. Spricht von starken Nackenschmerzen, die sie seit drei Monaten plagen, von Schmerzen im rechten Bein, die kommen und gehen, von einem Brennen im ganzen Körper, das sich ein wenig anfühlt wie Muskelkater oder als wäre der Körper eingeschlafen. Bevor sie sagt: „Ich habe eben dieses POTS, die Posturalische Small-Fiber-Neuropathie. Dadurch habe ich Probleme mit dem Herzen. Man kann sich das so vorstellen“, erklärt sie: „Wenn Sie aufstehen, dann geht Ihr Puls hoch, Ihr Körper merkt das und reguliert nach. Wenn ich aufstehe, reguliert mein Körper gar nichts. Meine Gefäße ziehen sich nicht zusammen, sondern bleiben weit und mein Blut versackt im unteren Teil des Körpers. Das Herz will das Blut nach oben pumpen in den Kopf, pumpt deswegen mehr, schlägt schneller.“

In einem Artikel in der Mediziner-Zeitschrift Medscape wird die Krankheit so definiert: „ME/CFS löst bei Betroffenen eine schwere Erschöpfung aus, die mit vielen weiteren körperlichen und kognitiven Symptomen einhergeht. Charakteristisch ist, dass sich die Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung verschlechtern.“ Belastungsintoleranz wird das Phänomen auch genannt.

Alltag ist komplett eingeschränkt

Kim Schmids Herz schlägt also dauerhaft zu schnell, rast bei jeder noch so kleinen Anstrengung. Ihre Energie muss sie sich also einteilen. „Jeder von uns hat zehn Löffel am Tag“, erklärt sie. „Ich brauche zum Aufstehen einen, ich brauche zum Anziehen einen, ich brauche zum Kinderfertigmachen einen, dann habe ich noch sieben. Und wenn ich die alle aufgebraucht habe, dann ist keiner mehr da und am nächsten Tag kommt auch kein neuer, weil wir im Schlaf keine Energie produzieren können. Die sind dann leer und dann bekommen Betroffene diesen Crash und das dauert, je nachdem, eine Woche, bis man sich erholt, bei manchen einen Monat, bei manchen gar nicht. Es kann sein, dass man sich davon nie wieder erholt.“

„Normale“ Tage, wie sie sie vor ihrer Erkrankung hatte, sind nicht mehr möglich. Ein Tag aus Aufstehen, Kinder in Schule und Kita bringen, Haushalt machen und kochen, Kinder abholen und am Nachmittag irgendetwas mit ihnen unternehmen, mit dem Hund spazieren oder Eis essen gehen. Nichts davon ist mehr möglich. „Einen normalen Tag gibt es bei mir nicht mehr“, sagt Kim Schmid. „Gehe ich in die Stadt, gehe ich nicht duschen, dann gehe ich sonst nirgendwo mehr hin. Alles muss immer in kleinem Maße genau dosiert sein. Unser Alltag klappt, aber er ist nicht so, wie ich ihn mir mit 38 Jahren vorgestellt hätte.“

Krankheit kam sehr plötzlich

Betroffen von ME/CFS sind zu zwei Dritteln Frauen und zu zehn Prozent Kinder und Jugendliche. „Fast 70 Prozent der deutschen Patienten können keiner Arbeit nachgehen, etwa ein Viertel ist bettlägerig und auf Pflege von Angehörigen angewiesen“, heißt es in dem Medscape-Artikel. Kim Schmid sagt: „Ich würde gerne wieder aufräumen können. Ich kann das Haus nicht mehr putzen, das macht mein Mann. Ich kann die Wäsche nicht mehr machen, das macht mein Mann. Und arbeiten gehen macht auch mein Mann.“ Sie selbst wird demnächst durch die Agentur für Arbeit in die Erwerbsminderungsrente gestuft.

„Es sind tatsächlich Kleinigkeiten, die einem fehlen, diese tollen Sachen wie Schlittschuh laufen oder Inliner fahren. Ich bin mit meiner Tochter ganz oft Inlinerfahren gegangen. Wir sind immer zusammen joggen gegangen, eine kleine Runde. Schwimmen habe ich auch sehr gerne gemacht und sehr viel. Ich kann mich wohl in den Pool stellen, aber schwimmen kann ich nicht.“ Im Schwimmbad war es tatsächlich auch, wo sich die 38-Jährige im Sommer 2022, als gerade die Maßnahmen gelockert worden waren, mit Covid infizierte. Extra vorsichtig fuhr sie mit ihren Kindern an einem Vormittag unter der Woche ins Schwimmbad, um große Ansammlungen zu meiden. Nur eine andere Familie war da. Aber als Kim Schmid aus dem Wasser tauchte, hustete ihr ein fremdes Kind mitten ins Gesicht. „Zwei Tage später war ich krank“, erinnert sie sich. „Und zwei Monate später war ich sehr krank. Und das vielleicht für immer. Das war einfach viel Pech. Das war ein einziger Indoor-Besuch, ein einziger.“

500.000 Betroffene

Kim Schmid möchte kämpfen. Für sich selbst, aber auch für all die anderen. Im vergangenen Oktober veröffentlichten die beiden in NRW tätigen Kassenärztlichen Vereinigungen Zahlen aus dem ersten Quartal 2024: 42.531 Patienten zählen sie – nur auf das Bundesland bezogen. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS spricht von 500.000 Betroffenen in Deutschland.

Das seien zahlreiche Patienten, „deren Erkrankung, ihre Symptome und Diagnostik Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Gesundheitsberufen häufig unbekannt oder nicht hinreichend trennscharf bekannt“ ist, heißt es in einem 2023 veröffentlichten Bericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Auch das kritisiert Kim Schmid und spricht von deshalb vielen falsch behandelten Patienten. Davon, dass vielen – auch ihr selbst anfangs – psychosomatische Beschwerden diagnostiziert wurden.

Vielen werde Aktivierung, zum Beispiel eine Reha, empfohlen. „Aber Aktivierung ist bei dieser Krankheit, bei dieser Belastungsintoleranz, eben das Allerschlimmste. Dadurch kann man im Rollstuhl landen oder bettlägerig werden.“ Sie spricht von Kindern, die ihren Eltern weggenommen und in Obhut gegeben werden, weil den Eltern falsche Behandlung vorgeworfen wird. Dann gibt es eine Bekannte, 29 Jahre alt, die Sterbehilfe beantragt habe, weil sie es nicht mehr ertragen könne. „ME/CFS ist die Krankheit mit der geringsten Lebensqualität von allen“, erklärt sie. „Sie ist schlimmer als HIV, schlimmer als Krebs, schlimmer als Multiple Sklerose. Und ME/CFS-Patienten gibt es mehr als HIV-Patienten und auch mehr als Multiple Sklerose. Das passt einfach nicht. Diese Krankheit muss in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt werden.“

Vor allem müsse endlich Geld in die Erforschung von Medikamenten investiert werden. Zwar hat das Bundesgesundheitsministerium für den Zeitraum 2024 bis 2028 81 Millionen Euro für die ME/CFS-Forschung vorgesehen. Allerdings fehlen weiterhin Gelder für die Erprobung aussichtsreicher Arzneimittel.


Bekanntheit für die Krankheit, die ihr alle Lebensqualität genommen hat, das möchte Kim Schmid. Denn im Reinen mit ihrem Schicksal ist sie noch lange nicht. „Ich habe mich nicht damit abgefunden“, sagt sie. „Es macht mich immer mal wieder sehr traurig. Letztens kam eine Freundin vorbeigejoggt, um mir etwas zu bringen. Das sind so Momente, die besonders hart sind. Ich war früher viel joggen und ich würde auch gerne wieder joggen, aber ich werde es wahrscheinlich nie wieder können.“