Chef des Multikulturellen Forums zur Migrationsdebatte „Ich bin Kenan Kücük, ich bin Lüner“

Chef des Multikulturellen Forums: „Ich bin Kenan Kücük, ich bin Lüner“
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Kenan Küçük kam 1980 als Abiturient aus der Türkei nach Lünen. Seit 1985 engagiert er sich für Migranten und die Gesellschaft. „Wir waren eine Handvoll engagierter Migranten, die anderen und auch sich selbst helfen wollten. Wir waren überzeugt: Wenn wir hierbleiben wollen, müssen wir auch Verantwortung übernehmen und die Gesellschaft mitgestalten“, erinnert er sich. 1992 wurde aus dem Türkisch-Deutschen Familien-Kultur-Verein das Multikulturelle Forum (MkF), dessen Geschäftsführer Kenan Küçük ist. Er ist Träger des Verdienstordens des Landes Nordrhein-Westfalen. 2010 saß er bei der Pressekonferenz zum 4. Integrationsgipfel neben Angela Merkel und gab ihr Kontra. Einige Tage nach der Bundestagswahl blickt er nun auf die aktuellen Entwicklungen.

Herr Küçük, wie hoffnungsvoll sind Sie, dass aus diesen Wahlergebnissen eine Regierung gebildet werden kann, die gute Dinge für Migranten bewirkt?

Diese in Teilen rechtsextreme Partei mit ihren rassistischen Äußerungen hat ihre Stimmen verdoppelt. Im Osten hat man das erwartet, aber dass die Wahlergebnisse auch im Westen so hoch sind und inzwischen fast ein Viertel der Abgeordneten im Bundestag von dieser sogenannten Partei gestellt wird, kann man nicht mit Zufriedenheit betrachten. Gleichzeitig haben immerhin 80 Prozent der Wähler die anderen demokratischen Parteien gewählt. Und von diesen demokratischen Parteien erwarte ich natürlich wesentlich mehr als von den anderen.

Kenan Küçük in seinem Arbeitszimmer in Lünen.
Kenan Küçük, Geschäftsführer des Multikulturellen Forums, engagiert sich seit 1985 für Gesellschaft, Politik, Miteinander und Respekt. © Kristina Gerstenmaier

Was erwarten Sie von der künftigen Regierung?

Da diese zwei großen Volksparteien erfahrenere Parteien sind, erwarte ich eine große Verantwortung Land und Menschen gegenüber. Und ich bin froh über die Linke und die Grünen, die die Regierung gut als Oppositionsparteien begleiten werden. Vor der Wahl war die Gesellschaft tatsächlich gespalten. Gerade im Migrationsbereich bin ich sehr viel mit Fragen konfrontiert worden: ‚Wie geht es weiter? Wann kommt die Abschiebung?‘ Diese Unsicherheiten kamen nicht nur von Menschen, die gestern zu uns gekommen sind, auch die Menschen, die seit zig Jahren hier leben, sind sehr unsicher geworden.

Ich denke, CDU, SPD, Grüne und Linke müssen alles tun, um diese Angst wieder zu nehmen. Das ist sehr wichtig. Leider gab es ja mehrere Ereignisse, durch die der eine oder andere stark in den Fokus geraten ist.

Meinen Sie die Anschläge?

Ja. Auch die CDU hat meiner Auffassung nach ihre Äußerungen ein bisschen überschritten. Ich hoffe, dass nach der Regierungsbildung die Vernunft zurückkommt.

Wir können uns diese Spaltung nicht leisten. Momentan befinden wir uns sowieso in einer sehr, sehr schwierigen Situation. Die Wahlen in den USA, die Ukraine, der Russlandkrieg, der Nahe Osten. Insofern brauchen wir inneren Zusammenhalt in unserem Land. Wir können es uns nicht leisten, dass diese Art des vor der Wahl betriebenen Wahlkampfs weitergeführt wird.

Denn wir haben Realitäten, die man mehr in den Fokus bringen muss. Realität in unserem Land ist: Wir haben in NRW zu einem Drittel Menschen mit Migrationshintergrund. Realität ist: Wir haben Fachkräftemangel. Realität ist: In den nächsten paar Jahren geht ein Viertel der Beschäftigten in Rente. Realität ist: Wir haben eine sehr geringe Geburtenrate. Da muss es natürlich, und das erwarte ich von den demokratischen Parteien, eine vernünftige Erklärung gegenüber den Wählern geben. Das Vertrauen, das sie verloren haben - womit die anderen 20 Prozent geholt haben - müssen sie zurückgewinnen. Sie müssen mit den Realitäten Politik betreiben. Das ist die große Herausforderung für die Regierenden.

Sie sagen also: Wir brauchen die Migration?

Alleine im Bausektor. Ohne Migration oder auch die Menschen, die aus Nachbarländern kommen, würde in Deutschland gar nichts gebaut. Der Baubereich wäre einfach tot.

Gleiches könnten wir auch über das Gesundheitswesen sagen: Ein Gesundheitswesen ohne Migration funktioniert nicht. Das sind unsere Realitäten. Und diese Realitäten müssen wir sehr bewusst der Bevölkerung erklären, denn das wissen die meisten nicht und aus diesem Unwissen entstehen dann Stammtischparolen, aus denen Politik gemacht wird.

Ich erwarte von den Volksparteien, den demokratischen Kräften, der Wohlfahrtspflege und auch der Zivilgesellschaft, Verantwortung zu übernehmen und diese Realitäten zu erklären.

Also soll kommen und bleiben dürfen, wer nützlich ist?

Nein. Es ist sehr gut, dass es das Asylrecht gibt. Wir haben 27 Staaten in Europa und wir sind stolz, dass wir auch diesen Zusammenschluss, diese Union haben. Wir brauchen das heute mehr denn je. Als die Grenzen wegfielen, haben die Menschen davon profitiert. Diese Art der Symbolpolitik, die Grenzen zu schließen, ist zu kurz gedacht. Wenn es um die Kriminellen geht, um die Menschen, die unsere Demokratie missbrauchen, dann haben wir Gesetze. Die sollen genauso bestraft werden wie alle anderen. Da mache ich keinen Unterschied. Außerdem brauchen wir Sicherheit. Wenn wir zum Karneval gehen oder eine andere Veranstaltung besuchen, will ich Sicherheit haben als Bürger.

Und ob das der Wilhelm ist oder Ali oder Mohammed, spielt für mich keine Rolle. Aber wenn das ein Krimineller mit einem migrantischen Namen macht, dann wird das bundesweit ganz anders publik gemacht. Bei dem Vorfall in Mannheim wurde gesagt, der Täter sei psychisch krank. Aber wenn das ein Mohamed oder Ali gewesen wäre, dann hätte man wieder ganz andere Wellen ausgelöst. Auch da, denke ich, muss tatsächlich nicht der Migrationshintergrund erscheinen. Vielleicht war auch Mohammed psychisch krank. Denn ein Mensch, der mit einem Auto in eine Menschenmasse fährt, ist psychisch kaputt. Diese Art der Differenzierung dürfen wir nicht machen.

Was löst das bei Ihnen aus?

Die Geschichte der Gastarbeiter wird in diesem Jahr 70 Jahre alt und ich finde es total traurig, dass man seit 70 Jahren immer über diese Themen redet und diskutiert und Migration für schuldig erklärt und ihr die Verantwortung zuschiebt. Wir haben es in 70 Jahren nicht geschafft, eine Normalität zu schaffen. Das ist eine der traurigsten Entwicklungen. Traurig, traurig, traurig. Müller und Hans und so weiter sind normal. Wir haben es in 70 Jahren nicht geschafft, dass Ali und Zeynep auch normal sind. Und diese traurige Situation spaltet die ganze Bevölkerung.

Wir müssen endlich aufhören, Migration als etwas Neues betrachten.

Wenn also immer nur darüber gesprochen wird, Migration zu begrenzen, wird dann der Fokus falsch gesetzt?

Meine Antwort ist: Kenan Küçük ist Lüner. Der lebt hier, der arbeitet hier, der baut hier und der kämpft hier für die Demokratie. Ich bin 1980 als Abiturient hier hergekommen und habe sehr viel mehr für diese Stadt und dieses Land geleistet als für mein sogenanntes Herkunftsland. Ich bin Lüner. Ob das der Gerd oder der Müller akzeptieren möchte, ist mir völlig egal: Ich bin klipp und klar Lüner. Und ich brauche Leute, die sich mit mir am einen Tisch setzen, diskutieren, Probleme besprechen, Lösungen finden und mich als gleichwertigen Bürger betrachten.