Wenn Irma Szodrak (86) auf die große Skizze mit dem Grundriss des einstigen Adelsguts Haus Oberfelde in Lünen schaut, dann sieht sie darin weitaus mehr als bloß Linien und Wörter wie Deele, Schuppen, Stall und Küche. Sie hat noch genau vor Augen, wie all dies früher in der Realität aussah. Die Gebäudeteile, die heute nicht mehr stehen, die Schweine, Kühe, Gänse und Pferde - und natürlich die vielen Angestellten, die hier nicht nur arbeiteten, sondern auch wohnten.
„Auf dem Hof war immer viel Betrieb“, erzählt die 86-Jährige und muss schmunzeln. Mit dem Kleinod in Niederaden verbindet sie so viele Erinnerungen, dass sie gar nicht so recht weiß, wo sie anfangen soll. Das ist nicht verwunderlich. Schließlich hat Szodrak, die heute im Kamener Stadtteil Methler wohnt, viele Jahre auf dem geschichtsträchtigen Anwesen gelebt.
Geboren wurde sie 1938 und trug bis zu ihrer Hochzeit den Namen Kost. Von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre war ihre Familie Pächterin des Hofes. Das alte Buch mit Rechnungen, das neben Szodrak auf dem Tisch liegt, verrät, wie die Pacht damals bezahlt wurde: zum Teil in Naturalien, darunter Enteneier und Hühner.
Als Horst Riehl das liest, muss auch er lachen. Riehl hat die Geschichte des Hauses gemeinsam mit Szodrak aufgearbeitet – für einen Beitrag im Jahrbuch des Kreises Unna. Darin geht es unter anderem um die Ursprünge des Hauses – die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1351 - sowie seine Bedeutung für den Ortsteil, wechselnde Besitzverhältnisse und Umbauten.

In diesem Punkt spielt der Name Clemens Carl Alexander Heinrich Giesbert von der Recke eine tragende Rolle. Denn der einstige Eigentümer und letzte adelige Besitzer des Gutshofs veranlasste bereits im Jahre 1797 massive bauliche „Veränderungen“. Er beantragte den kompletten Abriss aller Bestandsgebäude und ließ neue errichten. Zu letzteren gehörte auch das als „Spieker“ bezeichnete Turmgebäude, das heute das Wappen Niederadens ziert, tatsächlich aber wohl nie als Getreidespeicher genutzt wurde, sondern vielmehr der Verschönerung des Hofs diente.
Zur Zeit der Familie Kost befand sich in dem Gebäude eine Schmiede - und eine mit einem Uhrwerk verbundene Bronzeglocke aus dem 17. Jahrhundert. Ihr Läuten signalisierte den Bediensteten unter anderem, dass es Zeit für eine Pause oder für den Feierabend war.
Kartoffelkäfer vom Feld gesammelt
„Hier in diesem Teil wohnten die Angestellten“, sagt Szodrak und zeigt auf die Skizze. Zwei Mitarbeiterinnen und zwei Auszubildende waren im Wohnhaus beschäftigt. Hinzu kamen vier Knechte, ein Melker, zwei Mägde und ein Verwalter im landwirtschaftlichen Bereich. Auch Niederadener Schulkinder halfen bei der Arbeit auf den Feldern – beim Sammeln der Kartoffelkäfer im Frühsommer sowie bei der Kartoffel- und Rübenernte im Herbst.

Szodrak erinnert sich noch, wie sie in ihrer Kindheit mit ihren älteren Geschwistern im Teich und in der Gräfte gebadet hat und mit einem kleinen Boot gepaddelt ist. Aber nicht alles war so harmonisch. So diente das frühere Adelsgut während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach als Wohnraum für Menschen aus Dortmund, Köln und anderen Städten, die ihr gesamtes Hab und Gut bei Bombenangriffen verloren hatten.
Auch (ehemalige) Zwangsarbeiter lebten auf dem Hof. Wahrscheinlich haben einige von ihnen auch dort gearbeitet. „Das war natürlich keine schöne Zeit“, sagt Szodrak und senkt ihren Blick: „Ich weiß aber nicht mehr vieles aus diesen Jahren, weil ich ja noch ein Kind war. Und später wurde darüber einfach nicht mehr gesprochen. Man hat es verdrängt.“

Nicht verdrängen lässt sich bis heute der Gedanke an die stets niedrigen Temperaturen in den Gebäuden. Die Kälte im Winter und die Größe der Räume waren letztlich der Grund dafür, dass die Familie 1966 auszog. Wie es danach mit dem Gutshof weiterging, erlebte Szodrak folglich nicht mehr hautnah. Schon Anfang der 1960er Jahre hatte die Eigentümer-Familie Schulte-Witten die Gebäude an die Treuhandstelle für Bergmannswohnungen verkauft. Der neue Besitzer ließ sie jedoch verfallen. So sehr, dass 1972 die Abrissbagger anrollten. Lediglich die Scheune und der Spieker blieben erhalten.
Dass letzterer heute noch steht, ist der Stadt Lünen zu verdanken, die das Gebäude mit der Eingemeindung Niederadens im Jahr 1968 in Besitz nahm und es renovierte. Anschließend richtete Künstler Rolf-Dietrich Ratzmann sein Atelier und seine Wohnung in dem restaurierten Gebäude ein. Seit 2002 ist der Spieker wieder in Privatbesitz und dient – ebenso wie die benachbarte Scheune – weiter als Wohnraum. Als „gemütliches Tiny House auf drei Ebenen“ beschreibt Horst Riehl die Immobilie aus heutiger Sicht. Dass ihre historische Bedeutung nicht in Vergessenheit gerät, dazu haben Riehl und Szodrak durch ihre Zusammenarbeit gewiss ihren Teil beigetragen. Das Jahrbuch des Kreises Unna ist ab sofort in Lünen in der Lippe-Buchhandlung zum Preis von 13,90 Euro erhältlich.


