Um 5.45 Uhr schellt bei Ferhat Aydin unter der Woche der Wecker. Der Lüner ist Lehrer und fährt jeden Morgen zur Gesamtschule nach Recklinghausen, auch am Montag (6.2.). Als er an diesem Morgen noch schlaftrunken aufs Display des Handys schaute, war er aber augenblicklich hellwach. Denn mehr als 200 WhatsApp-Nachrichten waren eingegangen, seitdem er ins Bett gegangen war.
„Alles Mitteilungen in den verschiedenen Familien-Gruppen“, sagt er. Verwandte aus der Türkei, die sich aufgeregt über das austauschten, was gerade passiert war. Ein Erdbeben der Stärke 7,8 hatte am frühen Morgen (4.17 Uhr Ortszeit, 2.17 Uhr deutsche Zeit) die Region zwischen Syrien und der Türkei erschüttert. Das Epizentrum lag in der Nähe der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt Gaziantep, rund 60 Kilometer von der Grenze zu Syrien entfernt - und 200 Kilometer östlich von Adana, der Heimatstadt von Ferhat Aydins Eltern.
Glück für Angehörige
„Die Familie hatte Glück“, sagt der Enddreißiger. In den 200 Nachrichten versichern sich das die Verwandten immer wieder: was sie für ein Glück gehabt hätten - im Gegensatz zu den vielen anderen. An diesem Montagmorgen ist noch von mehr als 300 Toten die Rede, einen Tag später am 7. Januar ist die Zahl auf mehr als 5000 gestiegen. In der Türkei sind Medienberichten nach bisher 3419 Tote, in Syrien derzeit 1600 Tote registriert worden. Dazu kämen 20.534 Verletzte. Nach Angaben der WHO sind etwa 23 Millionen Menschen von den Erdbeben betroffen. „Und das ganze Ausmaß der Katastrophe ist immer noch nicht absehbar“, ist Aydin überzeugt.
Ferhat Aydins Eltern pendeln regelmäßig zwischen der Türkei und Deutschland hin und her. Im Winter seien sie vorzugsweise in Deutschland, sagt der Sohn, der selbst schon Familienvater ist. Sie erlebten nicht das Beben, das als eines der schwersten gilt, das das Land je getroffen hat - und davon gibt es einige. Das tödlichste Erdbeben der jüngsten Vergangenheit mit mehr als 17.000 Toten war am 17. August 1999 in Izmit/Gölcük, nahe der Millionenstadt Istanbul. Nur ein Jahr davor, am 27. Juni 1998, traf es direkt Adana: mit einer Stärke von 6,3. Fast 150 Tote gab es damals zu beklagen. Und wieder hatte Familie Aydin großes Glück.
Lüner hat früheres Beben erlebt
„Damals war ich dabei“, erinnert sich Ferhat Aydin. Er war mit den Eltern im Sommerurlaub bei den Verwandten. Die Erschütterungen, die Zerstörung, die durchwachte Nacht auf der Straße, weil man sich nicht ins Haus zurück traut: Alles hat er mitgemacht. „Nur war es damals Sommer.“ Und die Wucht war nicht so schlimm wie dieses Mal.
Seine Schülerinnen und Schüler - insbesondere diejenigen, die familiäre Wurzeln in der Türkei oder im ebenfalls betroffenen Syrien haben, hatten an diesem Montag noch gar nicht das Unglück registriert. Das werde an diesem Dienstag anders sein, sagt der Lehrer, der Sozialwissenschaften und Pädagogik unterrichtet. Da werde es ihm nicht anders gehen als anderen Lehrern und Lehrerinnen. „Wir werden dann mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch kommen über die Krise“, die Angst und den tausendfachen Tod - über etwas, das auch Erwachsene kaum verstehen.