Erst ein stechender Schmerz im Bein. Dann Ärger, der den ganzen Körper flutet. „Ausgerechnet jetzt“, wird Gottfried gedacht haben, als er zu Boden stürzt. Auch wenn es nur vier Kilometer quer durch den Wald sind: Dass er sich mit der Verletzung besser nicht auf den Weg nach Lünen macht, ist gleich klar. Der mittlere der drei Grafen-Söhne wird zu Hause auf der Cappenberger Burg bleiben müssen, wenn das wichtige Treffen mit Eckerich stattfindet. Was für ein Pech, werden alle an diesem Tag sagen. Was für ein unglaubliches Glück, wird es wenig später heißen. Dass Gottfried seinem verletzten Bein bald sein Leben verdanken wird, kann noch niemand ahnen.
Rund 940 Jahre später führt der Weg von Schloss Cappenberg nach Lünen immer noch quer durch den Wald. Für die Wanderung stehen verschiedene Strecken zur Auswahl. Welchen einst die Grafen-Söhne gewählt haben? Vielleicht den vom Schlossberg über den Struckmannsberg hinab in Richtung Süden. Wann der schicksalhafte Besuch stattfand? Vielleicht an einem regnerischen Wintertag, an dem die dunklen Wolken die kahlen Wipfeln der Buchen und Eichen zu streifen scheinen und der durchnässte Waldboden unter jedem Schritt nachgibt. Das beständige Prasseln des Regens auf den Kapuzen überdeckt alle anderen Geräusche. Selbst das Schnauben von Pferden und das Klirren von Schwertern wäre jetzt nicht zu hören. An so einem Januar-Tag hätten die Edelleute erst gemerkt, dass sie in einen Hinterhalt geraten sind, als es schon zu spät war.
Conrad Butgenius war auch kein Zeuge des Geschehens. Er lebte 500 Jahre später in Köln. Ob er je den Cappenberger Wald betreten hat, ist unwahrscheinlich. Dennoch beschreibt er lebhaft, was sich zutrug: „Die Mörder zu den Grafen eilen / mit großem Grimm, mit Schwertern und Pfeilen. / Sie hauen, schießen, stechen und morden / die Grafen alle beide erwürget worden.“ Die Kriminalistik späterer Jahrhunderte wird angesichts dieser Welle von Gewalt von Übertötung sprechen. Fest steht: Nicht nur die adeligen Brüder sind am Ende tot, sondern auch ihre beiden Diener, die sie begleitet haben. Nur Gottfried, der zuhause das pochende Bein hochgelegt hat, überlebt.
Münster in Brand gesetzt
Gottfried von Cappenberg? Wer 2022 die umfangreichen Cappenberger Jubiläumsfeierlichkeiten verfolgt hat, weiß: Im Jahr 1122 hatte Graf Gottfried von Cappenberg auf Titel und Besitz verzichtet und seine Burg dem damals gerade gegründeten Orden der Prämonstratenser übertragen. Ein Jahr Jahr zuvor hatte er mit seinem Bruder Otto Münster angegriffen und die Stadt inklusive des Doms in Schutt und Asche gelegt: ein Frevel, den er mit seiner großzügigen Stiftung zu sühnen versuchte. Diesen Gottfried verehrt die katholische Kirche als Heiligen und gedenkt seiner am 13. Januar eines jeden Jahres besonders. Er ist aber nicht der Gottfried, dessen Brüder kurz vor Lünen heimtückisch ermordet wurden. Jener Fußkranke war sein Vater: der Grafensohn, der eigentlich nicht den Titel geerbt hätte und ihn damit auch nicht an seinen heiligen Sohn hätte weitervererben können, wenn der böse Eckerich nicht gewesen wäre.
Fast 50 Jahre Kampf um Macht
Es sind unruhige Zeiten, in denen Gottfried und seine beiden Brüder geboren wurden. Sächsische Grafen und Bischöfe kämpfen gegen den Kaiser und der gegen den Papst. Vom Investiturstreit wird später die Rede sein: ein fast 50 Jahre dauerndes Kapitel von Schlachten, Kämpfen und wechselnden Bündnissen, bei dem die Stadt Münster auf der kaiserlichen Seite steht, während der dortige Bischof für den Papst eintritt.
Ob das auch etwas mit dem Hass von Eckerich auf die Grafen-Brüder zu tun hat? Oder ob sein Motiv allein Habgier war, wie der barocke Verse-Schmied Conrad Butgenius nahe legt? „Ein Edelmann mit Namen Eckerich, / des Grafen Lehnsmann, war sehr reich. / Überlegte, wie er der Grafen Geschlecht / durch List und Mord umbrächte, / damit das Lehen sein Erbgut würde und / kein anderes Herz mehr dazu gehört.“

Das Lehnswesen bestimmte das Leben im Mittelalter - ein Geben und Nehmen: Der Lehnsmann war mit seiner Familie und dem Gesinde dem Lehnsherrn zu Gehorsam und Dienst - vor allem zum Dienst an der Waffe - verpflichtet und der Lehnsherr seinen Leuten gegenüber zur Gewährung von Schutz und Unterhalt. Dieser Unterhaltspflicht kam er in der Regel durch die Verleihung eines Gutes nach: des Lehens.
Eckerich konnte die offenbar erheblichen Einnahmen seines Gutes behalten und hatte zudem in dieser kriegerischen Epoche den Beistand eines überaus mächtigen Herrn. Aber er war nicht frei in seinen Entscheidungen. Dass sich das selbst durch die Ermordung aller drei Grafen-Brüder geändert hätte, ist eher unwahrscheinlich. Sicher ist indes, dass er durch seine Tat nicht nur sein Lehen verlor, sondern auch das Leben. „Für diese Tat wird Junker Eckerich / alsbald danach mit dem Schwert gerichtet / und schändlich auf dem Feld gehängt / die Füße wurden ihm nach oben gewendt.“
Name des Mörders unvergessen
Immerhin: Eckerichs Name ist bis ins 21. Jahrhundert überliefert, der seiner beiden gräflichen Opfer allerdings nicht und erst Recht nicht der ihrer Diener. Dabei muss unter den Brüdern der damals amtierende Graf von Cappenberg gewesen sein, also Gottfrieds älterer Bruder. Fredy Niklowitz, Wilfried Hess und Dr. Widar Lehnemann, die Autoren des 2016 erschienenen historischen Werks „Hundert und eine Erzählung“ gehen davon aus, dass zum Zeitpunkt der Tat Graf Hermann, der Vater der drei Brüder, schon drei Jahre tot war. Die Lüner Autoren haben nicht nur den Stammbaum des mächtigen westfälischen Adelsgeschlechts nachgezeichnet, das sowohl mit Widukind, dem Sachsenherzog, als auch mit dessen Bezwinger, Karl dem Großen, verwandt sein soll. Sie haben auch den Tatort zwischen Cappenberg und Lünen aufgespürt,
Forscher finden den Tatort
Vom „Wald Grevenlo zwischen Lünen und Hamm“ ist die Rede in der Lippe-Sage, die von Generation zu Generation von dem Mord berichtet: ein großes Gebiet. Lehnemann, Niklowitz und Heß sind überzeugt, dass der Tatort auf direktem Weg zwischen der Burg in Cappenberg und Eckerichs Gut in Lünen war. Auf der Altlüner Urkatasterkarte von 1822 entdeckten sie südlich der Straße Im Holt (heute ein Fußweg, der vom Ehrenmal am Friedhof vorbei zur Cappenberger Straße führt) die Flurbezeichnung „“Gravelloch“ - nichts anderes als der überlieferte Grafenwald: Grevenlo. „Der Mord wird somit an dieser Stelle am ursprünglichen Weg von Cappenberg nach Lünen stattgefunden haben, der über die Cappenberger Straße, die Bergkampstraße, die Haferkampstraße und die Borker Straße führte“, schreiben sie.

Der unversehens zum Grafentitel gekommene Gottfried baut die Cappenberger Herrschaft aus. Er heiratet mit Beatrix von Hidrizhausen eine weitläufig mit Kaiser Heinrich IV. Verwandte, die Besitztümer in Baden-Württemberg mit in die Ehe bringt. An der Seite dieses Kaisers - bekannt durch den berühmten Bußgang nach Canossa - kämpft Gottfried immer wieder. Auch 1106, als sich der Kaiser gegen seinen eigenen Sohn zur Wehr setzt, der ihn abgesetzt hat. Die Schlacht im belgischen Visé wird gewonnen, doch Gottfried fällt. Und Heinrich IV. erkrankt kurz nach dem Sieg und stirbt bald. Die Söhne übernehmen: in Cappenberg Gottfried, der letzte Spross des Grafengeschlechts, und im Reich Heinrich V., der letzte Herrscher der Salier.
Es hört auf zu regnen, als der Wanderweg vom Vogelsberg hinab aus dem Wald hinaus führt: freier Blick auf Schloss Cappenberg, das sich rot-weiß vor dem grauen Himmel abzeichnet. Auf der Anhöhe mit Blick über die Lippe hinweg, wo zu Zeiten beider Gottfrieds die wehrhafte Burg stand, hatten Prämonstratenser-Chorherren die barocke Dreiflügelanlage als Kloster bauen lassen. Beim Anblick können Wanderer auf unebenem Boden leicht ausrutschen oder stolpern. Macht aber nichts. Mögliche Verletzungen am Bein können schließlich auch ihr Gutes haben.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist am 8. Januar 2024 zum ersten Mal erschienen.


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