Elaha Igbali ist klein, zierlich und sanft in ihrer Art zu sprechen. Und trotzdem schwingt in ihren Sätzen eine unglaubliche Willenskraft und Stärke mit. Die 18-Jährige sitzt am Tisch im Büro von Dörte Sancken. Sie ist ihre Lehrerin am Lüner Lippe-Berufskolleg und gleichzeitig brennende Unterstützerin. Elaha spricht von ihrer Flucht aus Afghanistan, von der Perspektivlosigkeit, mit der die siebenköpfige Familie in Kabul konfrontiert war, von Toten im Mittelmeer und brutalen griechischen Polizisten.
Vor allem aber spricht sie davon, wie wichtig es ist, „im Kopf immer stark zu bleiben: „Man sollte immer auf das Positive gucken und nie den Mut verlieren“, sagt sie. „Das gibt die Energie, die man zum Überleben braucht.“ Und während die 18-Jährige spricht, gibt es keinen Zweifel, dass sie es schafft, wenn sie sagt: „Ich möchte Dokumentationen drehen, Filmemacherin werden.“
Dieser Wunsch ist nicht aus der Luft gegriffen. Während Elaha ihre Geschichte erzählt, ruft die französische Filmemacherin Manon Loizeau an. Eigentlich erwartet sie die junge Frau am nächsten Tag in Genf, um zwischen illustren Gästen, wie dem chinesischen Künstler Ai Weiwei oder der jemenitischen Menschenrechtsaktivistin und Nobelpreisträgerin Tawakkol Karman beim „Human Rights Film Festival“ der UN ihren Film zu präsentieren.
Denn die Flucht aus Afghanistan, über die Türkei und Griechenland nach Deutschland hat die junge Frau in Bildern festgehalten. „Es ist eine Tatsache, dass wir von der Art, wie die Geschichte von Elaha und ihrer Familie in dem Film erzählt wird, wirklich beeindruckt sind und wir glauben, dass die Stimmen und die Anwesenheit von ihr und ihrem Bruder eine große Bereicherung für die Qualität dieser Veranstaltung wären“, heißt es in der Einladung der Festivalorganisatoren. „La vie devant elle“, heißt der Film, übersetzt: „Das Leben liegt vor ihr“.

Termin bei der Ausländerbehörde
Weil Elaha wegen ihres Aufenthaltsstatus keine Reisegenehmigung für die Schweiz bekommen hat, ruft die französische Filmemacherin an, um ihr mitzuteilen, dass sie dann über Zoom und eine Videoleinwand dem Festival zugeschaltet werden wird. Dörte Sancken und eine weitere Lehrerin des Berufskollegs telefonieren auf englisch und französisch, vermitteln und versprechen ihr, das Equipment für die Schaltung bereit zu stellen.
Zeitgleich erreicht Dörte Sancken die Nachricht, dass die Familie ebenfalls am nächsten Tag einen Termin bei der Ausländerbehörde hat, um über ihren Aufenthaltsstatus zu sprechen. Alle drei strahlen. „Elaha ist so stark“, kommentiert Dörte Sancken. „Sie geht einfach ihren Weg. Wir haben hier oft ganz, ganz tolle Leute, für die aber alles fremd ist, und die eben noch viel Unterstützung brauchen, bis sie irgendwann ihren eigenen Weg gehen. Ich habe selber Kinder. Da kann ich doch nicht weggucken.“

Vier Jahre auf der Flucht
2018 war Elaha gemeinsam mit zwei Schwestern, zwei Brüdern und ihren Eltern aus Kabul, Afghanistan aufgebrochen. „Das Leben dort war sehr schwierig“, erzählt die Schülerin. „Wir waren arm und andere Mädchen haben immer über mich gelacht. Zum Beispiel, weil ich gebrauchte Kleidung getragen habe. Mein Vater war krank, konnte nicht laufen und nicht arbeiten.“ Ihre Mutter wurde als Friseurin regelmäßig von Talibs bedroht. Elaha und ihre Schwestern konnten - ebenfalls wegen der Bedrohung durch die Taliban - nicht zur Schule gehen. „Damit die Kinder eine Chance auf Bildung haben, müssen wir gehen“, hatte ihre Mutter gesagt. „Das war unser Antrieb“, erzählt Elaha und fügt hinzu: „Meine Mutter ist eine sehr, sehr starke Frau. Und wir wollten alle stark sein.“
Vier entbehrungsreiche und gefährliche Jahre der Flucht über die Türkei, wo die Familie 16 Monate in einem Park im Freien lebte, und sieben missglückte Versuche mit dem Boot nach Griechenland überzusetzen, folgten. Während ihrer elf Monate im griechischen Flüchtlingslager Moria baute Elaha eine Schule im Wald. „Es gab so viele kleine Kinder, die nicht in die Schule gingen, nicht durften. Wir haben einen Baum gefunden, den wir als Tisch benutzten. 600 Personen haben so jeden Tag gemeinsam gelernt“, erinnert sie sich. Ein griechischer Journalist wurde auf sie aufmerksam und postete ein Foto, das viral ging: „Schulgründerin“ Elaha inmitten von Kindern in Moria. Das bemerkte wiederum Manon Loizeau, die französische Filmemacherin. Sie reiste auf die griechische Insel Lesbos und stattete Elaha mit einer Kamera aus. Sie sollte ihre weitere Flucht filmen, lautete der Auftrag.
Film bei mehreren Festivals
„Am Anfang hat sie gesagt, dass dann vielleicht 20 Minuten rauskommen sollten“, lächelt Elaha. „Dann wurden es 30, 40 und jetzt ist es ein Film von 90 Minuten.“ Mit Bildern voller Stärke, Echtheit und Melancholie, ganz nah dran an den Träumen, Visionen und der Motivation der sieben Familienmitglieder, ist dabei ein Film entstanden, der unter die Haut geht. „Das Filmen habe ich gelernt, während ich es tat“, erzählt Elaha. „Die Kamera gab mir die Energie, immer weiterzumachen. Ich hatte die Chance bekommen, mit meiner Hand die Geschichten der Geflüchteten zu zeigen. Für mich zeigt der Film: Wie können wir weiter machen? Wie können wir stark sein? Wir konnten es uns nicht aussuchen, wir hatten keine Wahl, wir konnten nur stark sein im Kopf.“
In Frankreich ist der Film bereits auf mehreren Festivals gelaufen, wurde im Fernsehen gezeigt und gewann Preise. Elaha wurde in Talkshows eigeladen. Jetzt möchte Dörte Sancken versuchen, ihn auch nach Deutschland zu holen. Und Elaha, das Mädchen, das in ihrer Heimat wegen ihrer Kleidung aus zweiter Hand ausgelacht worden war, sagt jetzt: „Der Film hat mich stark gemacht. Ich bin sehr dankbar in Deutschland und in Lünen zu sein. Hier fühle ich mich wie ein Mensch.“
Den Film in gesamter Länge und mit englischem Untertitel gibt es unter https://vimeo.com/755621020/b1eeb4abeb.