Das lebendige Gedächtnis Niemand weiß soviel über Lünens Geschichte wie Fredy Niklowitz (64)

Das lebendige Gedächtnis: Niemand weiß soviel über Lünens Geschichte wie Fredy Niklowitz (64)
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Ein Archiv hält die Zeit fest, aber es geht auch mit der Zeit. Der in Bork wohnende Lüner Stadtarchivar Fredy Niklowitz ergänzt: „Es bewahrt heute das Gestern für morgen“. Wenn er nach über 40 Jahren bald in den Ruhestand geht, so ist es quasi die Staffelübergabe für das lebendige Gedächtnis der Stadt Lünen.

Zufällige Begegnungen, Ereignisse und eine vage Vorstellung haben ihn auf diesen Weg gebracht. Eine Vitrine mit historischen Fundstücken im Foyer des Rathauses machte den Anfang, ein Referat im Leistungskurs Geschichte führte ihn ins Lüner Stadtarchiv, Adolf Reiß, der es damals leitete, trat in sein Leben.

Der erste Gedanke, Archäologe zu werden verblasste, er studierte Archivwissenschaften und wurde Diplom-Archivar. Fest im Blick: Das Archiv seiner Heimatstadt Lünen. Eineinhalb Jahre durchlebte er an der Seite von Reiß die Sammlung im Untergeschoss des Rathauses, bestehend aus drei Kilometern Akten in 100 Beständen, bis er seinen Traum dann übernehmen konnte.

In seiner Schaffenszeit hat er viel erlebt und es hat sich viel getan. Ein sicherlich einschneidendes Erlebnis war der Einsturz des Kölner Archivs. Er durfte damals an der Rettung zahlreicher Dokumente und Urkunden mitwirken. „Es hat gezeigt, wie wichtig es ist, so unwiederbringliche Bestände vor der Vernichtung durch Feuer, Wasser und Unglücke zu sichern und zu bewahren.“

Eben solche Urkunden waren zu diesem Zeitpunkt längst ein absoluter Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Als die Lippestadt 1991 ihr 650-jähriges Bestehen feierte, lieferte er den ersten Teil eines Urkundenbuches. Zusammen mit Dr. Wolfgang Bockhorst vom LWL-Archivamt Münster hatten sie die Zeit der ersten Erwähnung um 890 bis zur Verlegung der Stadt auf das südliche Lippeufer aufgearbeitet und in einem dicken Wälzer niedergeschrieben.

Ein einschneidendes Erlebnis: Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs. Fredy Niklowitz (l.) half bei der Rettung zahlreicher Dokumente und Urkunden.
Ein einschneidendes Erlebnis: Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs. Fredy Niklowitz (l.) half bei der Rettung zahlreicher Dokumente und Urkunden. © Foto: Goldstein

Dabei sollte es aber nicht bleiben, und so stürzte sich Niklowitz vor 16 Jahren auf den zweiten Teil. Als er noch in Münster wohnte, seinem Studienort, ist er ab 1985 jeden Mittwoch in das dortige Staatsarchiv gegangen, und hat nach Quellen zu Lünen gesucht. Er wurde in großem Umfang fündig, und so war die Grundlage für das Urkundenbuch gegeben mit allem, was für die Lüner Stadtgeschichte wichtig war.

„Damit es keine endlose Geschichte wurde, sollte der zweite Teil 1575 enden“, sagt er. „Bis dahin waren die Urkunden aus Pergament gefertigt, das war teuer und rar. Dann wechselte man zu Papier, damit nahm die Flut der Quellen stark zu.“

Der gewählte Zeitraum von 1341 bis 1575 hatte es in sich, und liefert spannende Einblicke und Geschichten über das Leben der Menschen in Lünen. Die anfängliche Ruhe, in der sich die neu errichtet Stadt wähnte, dauerte nicht lange. Sie war nun Grenzstadt mit einem wichtigen Flussübergang, gelegen in einem Vier-Ländereck. Das musste zu Streitigkeiten führen, weil jeder seine Vorteile suchte.

So beklagte die Grafschaft Dortmund Landraub durch die Stadt Lünen, die zur Grafschaft Mark gehörte. Die beiderseitige Grenze war die Seseke, wo die Dortmunder im Bereich der Mündung einen Freistuhl (eine Gerichtsstätte) hatten. Auf heute übertragen sprechen wir vom Rathaus, das auf Lüner Seite war, und von der Villa Urbahn auf der Dortmunder, dazwischen die Seseke. Einen Stein, der das zeigte, haben die Lüner abgegraben und in der Lippe versenkt. 1947 hatte man ihn beim Ausbaggern gefunden, aber er ging verloren. Heute befindet sich ein solcher Stein direkt vor dem Ausgang des Stadtarchivs an der Nordseite des Rathauses auf dem Lippedamm.

Wesentlich heftiger wurde es zwischen den vier Nachbarn, als es um Befestigungsrechte ging. Sie wurden vom Bistum Paderborn eingefordert aber vom Erzbischof von Köln, der Herzog von Westfalen war, verweigert. So formierte sich eine Allianz zu einem Feldzug gegen die Kölner. Der Herr von Volmarstein besetzte Lünen und machte aus der Marienkirche auf dem Nordufer eine Burg, in der nachweislich auch gefoltert wurde.

Massengrab nach Schlacht

Nun mussten die Truppen des Bischofs von Paderborn die Stadt südlich umgehen, in Dortmund-Brechten trafen sie dann auf dem Wulfskamp auf ihre Gegner. Einige Tausend Kämpfer lieferten sich eine erbitterte Schlacht, die am Ende den Sieg auf Kölner Seite sah. Die Toten, so wird vermutet, wurden in einem Massengrab zurückgelassen. Ein Flurname deutet diesen Ort heute an.

Diese Schlacht bei Brechten ging als die größte des Mittelalters in Westfalen in die Geschichtsbücher ein. Da in dieser Auseinandersetzung die Marienkirche zerstört worden war, trieb die Beteiligten das schlechte Gewissen um. So trieb man durch Ablassbriefe Geld ein und spendete es für den Wiederaufbau.

In den rund 2000 Quellen in Form von Urkunden, Briefen und Aktenauszügen finden sich noch viele weitere Hinweise auf mittelalterliche Vorgänge.

Etwa auf die Situation der Hörigkeit und des Hörigentausches, was hauptsächlich die Landbevölkerung betraf. Aber es gab auch unter den Lüner Stadtbewohnern Verpflichtungen gegenüber dem Stift Cappenberg. Stadtluft machte frei, hieß es damals. Und wer es schaffte, einen Jahr und einen Tag dort zu verbringen, hatte es geschafft. Dennoch konnte er Wachszinspflichtiger sein, soll heißen, er musste Wachs für die Lichter des Klosters liefern.

Heutzutage läuft die Übergabe digital, am Computer: Fredy Niklowitz mit seiner Nachfolgerin Jennifer Ebenstreit.
Heutzutage läuft die Übergabe digital, am Computer: Fredy Niklowitz mit seiner Nachfolgerin Jennifer Ebenstreit. © GUENTHER GOLDSTEIN

Viele der Urkunden behandeln auch die vier Adelssitze, die es in Lünen gab. Dies waren Buddenburg, Schwansbell, Aden und Oberfelde. So dokumentieren sie etwa den wirtschaftlichen Aufstieg derer von Schwansbell, die so reich waren, dass sie 2.000 Goldgulden für den Bau des Kölner Domes spenden konnten.

Aber auch über die normalen Bürger gibt es viel zu erfahren aus diesen Quellen. Viele wertvolle Hinweise stammen auch aus dem Roten Buch, das der Stadtschreiber zu jeder Sitzung des Rates mitbrachte, und das vom 15. bis zum 18. Jahrhundert geführt wurde.

Fredy Niklowitz fasst seine umfangreichen Recherchen zum Urkundenbuch so zusammen: „In Lünen war damals immer etwas los, es wurde nie langweilig“. Da waren selbst die Details von Bedeutung, etwa die Formeln zum Fälschen von Urkunden, die Siegel und Signaturen, etwa die von Menschen, die nicht schreiben konnten.

Urkundenbuch Teil 2 folgt

Mit seinem Urkundenbuch Teil 2 wird er im Rest seiner Amtszeit nicht mehr fertig. Es wird voraussichtlich im Sommer 2024 vollendet werden und das wohl in zwei oder drei Bänden.

Jetzt steht aber zunächst die Übergabe des Staffelstabes an seine Nachfolgerin an. Es ist Jennifer Ebenstreit, die ihm bereits seit dem 4. Januar 2023 zur Seite steht „Sie ist für das Archiv ein Glücksfall, eine gut ausgebildete Archivarin, mit der der Wissenstransfer gut läuft und beiden Seiten Spaß macht“, sagt Niklowitz. So wird in dem Gedächtnis der Stadt Lünen das Wissen weitergegeben, angefangen in der jüngeren Vergangenheit von Hiarm Wember auf Adolf Reiß, von dem auf Fredy Niklowitz und nun auf Jennifer Ebenstreit.