Chris Hadac aus Lünen erlebt Hurrikan Milton „Wir haben keine Angst vor dem Wind, wir haben Angst vor dem Wasser“

„Wir haben keine Angst vor dem Wind, wir haben Angst vor dem Wasser“
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Am Donnerstagmorgen (10. Oktober, Ortszeit), kurz nachdem Hurrikan Milton über den US-Bundesstaat Florida hinweg gezogen ist, fährt Christian „Chris“ Hadac bereits die Straßen seiner Nachbarschaft ab. Milton habe Unordnung gebracht und manches zerstört, dennoch habe die kleine Inselgemeinde schon Schlimmeres erlebt, so Hadac.

Ein Mann mit einem Fisch
Für die Bewohner Floridas, zu denen der Lüner Chris Hadac seit 24 Jahren gehört, ist das Risiko, dass Hurrikans über sie hinwegfegen, Teil ihres Lebens – wie das Fischen. © Chris Hadac

Der 54-Jährige ist vor 24 Jahren von Lünen in die USA ausgewandert, seitdem lebt er auf der Insel Marco Island, die im Golf von Mexiko an der Südostküste des Bundesstaates, etwa 170 Kilometer von der Metropole Miami entfernt liegt.

„Ich fahre gerade herum und kontrolliere Häuser“, schreibt er am Donnerstag kurz angebunden. Am darauffolgenden Freitag meldet er sich telefonisch bei der Redaktion. Während der Autofahrt zu seinem Arbeitsplatz hat er genügend Zeit, um nicht nur über den aktuellen Hurrikan zu erzählen, sondern auch über die Wirbelstürme, die die Bewohner von Marco Island in den vergangenen 24 Jahren heimgesucht haben, zu berichten.

Hadac beschreibt die Erfahrungen mit den Tropenstürmen und das Lebensgefühl, das er sich in seiner neuen Heimat angeeignet hat. „Schön, dass du anrufst. Ich spreche gerne Deutsch, weil ich es hier so selten sprechen kann.“ Einige Worte bleiben dennoch im Englischen stecken, kein Wunder, hat er doch bald die Hälfte seines Lebens auf der anderen Seite des Atlantiks verbracht.

Die Häuser, die Hadac am Vortag kontrolliert hat, gehören Freunden oder Bekannten, denen er schnell einen Schadenbericht habe zukommen lassen. Marco Island hat zwar nur etwa 16.000 Einwohner, doch mittlerweile besitzen mehr als 30.000 Menschen dort eine eigene Wohnung, um die Wintermonate im immer warmen „Sunshine State“ – dem Sonnenschein-Staat – zu verbringen. „Weil sie nur die kalten Monate bei uns verbringen, heißen diese Leute bei uns ‚Snowbirds‘“, erklärt Hadac. Schneevögel.

Mit seinem Beruf hat das nichts zu tun, Hadac arbeitet als Ingenieur für eine Sonnenstudio-Kette und entwickelt dort Hardware, Software und übernimmt die Wartung der Solarien.

Anders als zahlreiche Menschen hat Hadac mit anderen Bewohnern der Insel während des Hurrikans auf der Insel ausgeharrt. Die Häuser hätten den Sturm weitestgehend unbeschadet überstanden. „Das liegt an den strengen Bauauflagen, die wir hier haben“, sagt Chris. Die Zerstörungen, die die Nachrichten in Deutschland zeigten, gebe es auf Marco Island daher kaum noch. „Das betrifft nur alte Häuser und Gebäude, die nicht diesen Auflagen unterliegen, dem ‚Grandfathering‘“, sagt Hadac, und meint damit den Bestandsschutz.

Hart getroffen habe es das Ballungsgebiet Tampa Bay, rund um die Großstadt Tampa, etwa 300 Kilometer weiter nördlich. „Tampa hat bisher immer Glück gehabt“, sagt Hadac. Deshalb habe Milton die alten Bauten dort einfach hinweggefegt, das Ausmaß der Zerstörung ist riesig.

Der 54-Jährige nennt die Wirbelstürme, die er seit dem Jahr 2000 miterlebt hat, stets beim Namen. Kathrina (2005), Ian (2017), Irma (2017), Helene (2024) und all die anderen Hurrikans haben Hadac eine gewisse Routine im Umgang mit dieser Art von Naturkatastrophe erlernen lassen. „Jeder Sturm hat drei Phasen.“

Ein Junge vor einem Pappschild
Die Nachbarschaft hält zusammen. Nach dem Hurrikan Milton waren 87 Prozent der Gebäude auf Marco Island im Südosten Floridas ohne Strom. Dass die Glücklichen mit Energie diese ihren Nachbarn zur Verfügung stellen, ist selbstverständlich. © Chris Hadac

Erste Phase

„Der Sturm kommt nicht aus dem Nichts“, weiß Hadac. Die Entscheidung, Marco Island zu verlassen, müssten die Bewohner Marco Islands mindestens drei Tage vorher treffen, bevor der Hurrikan auf Land treffe. „Wir müssen mindestens einmal tanken, um aus Florida rauszukommen. Drei Tage, bevor der Sturm die Küste trifft, gibt es kein Benzin mehr an den Tankstellen.“

Also bereiten sich die Menschen vor Ort vor. „Shelter in Place“ nennen es die Amerikaner. Alle Türen und Fenster würden versiegelt so gut es geht, damit es drinnen trocken bleibe, die Böen könnten die modernen Häuser nicht mehr niederreißen.

Sind alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen, heißt es warten. „Noch drei Stunden, noch zwei Stunden, noch eine Stunde, nur auf den Fernseher schauen, wie weit der Sturm noch entfernt ist. Schrecklich.“

Ein verwüstetes Geschäft.
Wenn der Hurrikan weitergezogen ist, wird die hinterlassene Zerstörung sichtbar. © Chris Hadac

Zweite Phase

Ist der Sturm dann da, gebe es nur noch eine Frage: Wie hoch steigt die Flut? „Die Winde im Hurrikan drehen sich gegen den Uhrzeigersinn. Dadurch steigt das Wasser immer und immer höher, bis die Wellen aufs Land treffen. Diese Zeit ist schrecklich. Du sitzt nur da, wartest und fängst an zu zweifeln: Habe ich genug gemacht?“ Das gehe allen Bewohnern so, sagt Hadac – aus gutem Grund.

„Wir haben keine Angst vor dem Wind, wir haben Angst vor dem Wasser“, sagt Hadac. Jeder Bewohner wisse, dass die Wellen, die sich durch den auftürmten, eine todbringende Kraft mit sich führen. Außerdem seien Möbel, Teppiche und Ähnliches zerstört, sobald das Salzwasser, das der Sturm mitführe, sie durchtränkt.

Werde die „Dirt Line“, die Drecklinie, die das Wasser an seinem Scheitelpunkt zurücklässt, sichtbar, sei das Schlimmste überstanden, so Hadac.

Ein Auto vor einer Garage
Am höchsten Punkt stand das Wasser höher als das Garagentor. © Chris Hadac

Dritte Phase

Ist der Sturm durchgezogen, gebe es nur drei Fragen, die alle Menschen auf Marco Island beantwortet wissen wollen: Gibt es Strom? Gibt es fließendes Wasser? Gibt es Benzin? „Ach ja, und dann noch: Wie schlimm ist es eigentlich?“, so Hadac.

In der Regel dauere es drei bis fünf Tage, bis alles wieder da sei. In dieser Zeit helfen sich die Nachbarn untereinander, so gut es geht. Wer etwa Strom habe, lässt die Nachbarn ihre Mobilfunkgeräte aufladen.

Ist der Strom zurück, geht es ans Aufräumen. Alle Gegenstände, die das Salzwasser unbrauchbar gemacht hat, stellten die Anwohner an die Straße, die Müllabfuhr sammle alles schrittweise ein. „Dieses Mal stand der Müll noch an den Straßen, der nach Helene entsorgt werden musste“, sagt Hadac. Der Tropensturm hatte die Region erst zwei Wochen zuvor heimgesucht.

Eine umgestürzte Palme.
Je älter die Häuser sind, desto eher werden sie vom Wind weggerissen. © Chris Hadac

„Florida Strong”

Die Menschen im südlichsten US-Bundesstaat haben längst nicht nur den Umgang mit diesen Naturkatastrophen gelernt, wie es in den Vereinigten Staaten oft üblich ist, sondern dort ein Lebensgefühl und eine trotzige Einstellung gegenüber diesen unausweichlichen Naturgewalten entwickelt – und es benannt: „Wir nennen es ‚Florida Strong‘“, sagt Hadac. Florida bleibt stark.

Für Chris Hadac ist klar, dass er auf Marco Island bleibt, seinen Lebensmittelpunkt trotz Tropenstürmen und Hurrikans nicht aufgibt. Es gebe auch einzigartige, schöne Seiten, die diese Naturgewalten mit sich bringen. „Zweimal stand ich bereits im Auge eines solchen Sturms. Bei Ian war es wundervoll. Es war absolut windstill und der Himmel war komplett klar.“ Nur das Rauschen der umgebenden Winde sei zu hören gewesen.

Und am Tag nach dem Sturm gebe es immer das beste Wetter. „Am Morgen danach hast du einen wunderschönen Tag. Es ist, als wolle sich die Natur dafür entschuldigen.“

Eine Straße mit umgestürzten Büschen.
Sobald der Hurrikan vorbei ist, fangen die Menschen auf Marco Island an, die Verwüstungen zu beseitigen. © Chris Hadac

Laster und eine Stromleitung.
Nach dem Sturm gilt es als Erstes, die Stromzufuhr wieder herzustellen. © Chris Hadac
Eine Nachrichtensendung.
Wenn der Sturm kommt, gibt es nichts zu tun, außer darauf zu warten, dass der weitergezogen ist. Marco Island liegt etwa 30 Kilometer südlich der Stadt Naples. Die 107,4 Meilen, die der Hurrikan Milton auf diesem Radarbild von der Küste entfernt ist, entsprechen etwa 173 Kilometern. © Chris Hadac