Ihre Pflegerin Tuba sei wie eine Tochter für sie, erzählt Frau Kaya. So eng sei das Verhältnis in dem einen Jahr gewachsen, seit Tuba bei ihr ist. Seit einer Operation im Jahr 2020 ist die 59-Jährige ans Bett oder den Rollstuhl gefesselt und wird im Rahmen von Pflegestufe 5 versorgt: Sie braucht Unterstützung beim Essen und Trinken, der Körperpflege oder auch, um aus dem Bett und in den Rollstuhl zu kommen. Tuba hilft ihr bei all dem. Geduldig, freundlich, auf Augenhöhe.
Täglich verbringt sie bis zu zehn Stunden bei ihr. Für Frau Kaya, deren Krankengeschichte schon im Jahr 1982 mit einem Treppensturz beginnt, ist mit Tuba der inzwischen sechste aber wohl letzte Pflegedienst bei ihr tätig. Und das liegt nicht nur daran, dass Frau Kaya mit ihrer Pflegerin die gleiche Muttersprache - das Türkische - teilt. „Ganz unabhängig davon, ist dieser Pflegedienst einfach menschlicher“, sagt die 59-Jähriger auf die Frage, ob sich ihre aktuelle Pflege von vorheriger unterscheiden. „Hier steht die Menschlichkeit an erster Stelle“, sagt sie. „Wenn ich Hilfe brauche, sind sie sofort da und nehmen sich Zeit.“
Ein Familien-Unternehmen
Tuba arbeitet für den Pflegedienst „Bruder und Schwester“, den die beiden Brüder Hüseyin und Ahmet Ersoy gemeinsam mit ihrer Schwester Reyhan Yilmaz seit inzwischen drei Jahren an der Königsheide in Lünen-Brambauer führen. Zum 1. Oktober 2021 hatten sie ihn gegründet. Vater Osman Ersoy ist Inhaber. Die drei Kinder fungieren als Geschäftsführer. Dabei hat Hüseyin Ersoy erst Krankenpfleger gelernt und sich dann zum Pflegedienstleiter fortgebildet.
Während seiner Ausbildung holte er Schwester Reyhan dazu, die, während sich die Eltern um ihre Kinder kümmerten, ebenfalls die Krankenpflegeausbildung absolvierte. Beide versorgen die Patienten, arbeiten neue Mitarbeiter ein, betreuen die Auszubildenden. Ahmed Ersoy ist gelernter Medizinkaufmann und für die Büroarbeiten zuständig. Gemeinsam haben sie in den drei Jahren ein Unternehmen aufgebaut, das etwa 150 Patienten versorgt und 17 Mitarbeiter sowie vier Auszubildende beschäftigt.

Professionelle Pflege und Betreuung Hilfebedürftigen in deren vertrauter Umgebung anzubieten, das hatten sich die Geschwister zum Ziel gesetzt. „Wer ein Leben lang für andere da war, braucht irgendwann auch mal die anderen“, lautet das Motto. „Wir begegnen jedem Menschen mit Offenheit, Herzlichkeit, Ehrlichkeit, Respekt und Zeit“, steht in ihrem Flyer. Genau das werde auch umgesetzt, sagt Hüseyin Ersoy. „Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt“, sagt der 27-Jährige und ruft einen seiner Mitarbeiter an, um ihn zu fragen, ob er das Gefühl habe, unter Zeitdruck arbeiten zu müssen. „Ich nehme mir die Zeit, die ich brauche“, sagt der, noch bevor er den Hintergrund der Frage erfahren hat.
Zum Konzept des Pflegedienstes aus Brambauer gehört auch der türkische Hintergrund der drei Geschäftsführer. Ganz gezielt wollen sie auch türkischstämmige Mitbürger ansprechen. „Viele der ersten und auch der zweiten Generation der damaligen Gastarbeiter sprechen bis heute kaum Deutsch“, erklärt Hüseyin Ersoy. „Und viele haben, wie unsere Eltern zum Beispiel auch, ein Leben lang sehr hart gearbeitet und sind jetzt im pflegebedürftigen Alter. Ihnen wollen wir etwas zurückgeben. Wenn die Kommunikation stimmt, kann man eine vernünftige Beziehung aufbauen. Wir wissen, wie das ist, wenn man die Sprache nicht richtig spricht.“
Er und seine Geschwister sind die dritte Generation Zugewanderter aus der Türkei. 1970 kam der Großvater. Als der aber schon kurz darauf schwer erkrankte, hatte die Mutter schon mit 15 Jahren angefangen, mitzuarbeiten. In der Türkei heiratete sie. 1991 kam der Vater der drei Geschwister nach Deutschland. Er arbeitet als Gebäudereiniger, die Mutter ist Busfahrerin. Geld hatte die Familie nie viel.
Ein anderer Ansatz
„Als ich 2015 begann, in der Pflege zu arbeiten, habe ich sehr viel Schlimmes gesehen und erlebt“, erzählt Hüseyin Ersoy. Um seinen Eltern und anderen ihrer Generation und deren Eltern etwas zurückzugeben, beschloss er, es anders zu machen. Respekt vor dem Alter, Pflege mit Zeit oder auch gegenseitige Rücksicht, sind die Dinge, die den Geschwistern wichtig sind, erzählt er.
Drei Jahre nach Geschäftsgründung haben die Ersoys es also geschafft: Sie haben keine Geldsorgen mehr, das Unternehmen schreibt schwarze Zahlen, sie können selbstbestimmt arbeiten und ihre Werte leben.
50 türkischstämmige Patienten versorgt „Bruder und Schwester“ inzwischen, dazu etwa 100 deutscher oder anderer Nationalität. Unter den Mitarbeitern sind Pflegekräfte und Hauswirtschafterinnen. Denn neben der gesundheitlichen Versorgung beraten sie auch, kaufen ein, kochen oder begleiten zu Ärzten.
In der Zukunft wollen die Geschwister das Unternehmen noch weiter wachsen lassen. Sie wollen weitere Patienten und weitere Mitarbeiter aufnehmen. Um das umzusetzen, haben sie für das kommende Jahr eine Kooperation mit einem Fachkräftevermittlungsunternehmen aus Bochum abgeschlossen. Sechs Auszubildende aus Indien werden im kommenden Jahr bei „Bruder und Schwester“ anfangen. „Wir wollen damit dem Pflegenotstand entgegenwirken und ihnen dabei helfen, in einem fremden Land ihre Ausbildung zu machen. Wir sind selbst Ausländer und wollen ihnen das erleichtern.“ Nach der Ausbildung sollen die Pflegekräfte dann fester Teil des Teams werden.