1972 als Gastarbeiterin nach Lünen: Harte Arbeit und Verzicht „Wir wollten ein gutes Leben haben“

1972 als Gastarbeiterin nach Lünen: „Wir wollten ein gutes Leben haben“
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Als Günüssoy Sezgin am 2. August 1972 in Frankfurt aus dem Flugzeug stieg, hatte sie Träume und Hoffnungen. Ihren Mann und ihre dreijährige Tochter hatte sie im türkischen Izmir zurückgelassen. Etwas dazuverdienen wollte sie zu dem Gehalt ihres Mannes, der als Schuster arbeitete. In der Türkei gab es zu dieser Zeit keine Möglichkeit für die junge Mutter, eine Ausbildung zu machen oder zu arbeiten. Ihr Vater hätte es nicht zugelassen. „Wir wollten uns gerne ein Haus leisten können“, erinnert sich die heute 80-Jährige. Und als die Tochter der Nachbarn aus Deutschland zurückkehrte, erzählte, dass weiterhin Frauen gesucht würden, um in Deutschland zu arbeiten und Geld zu verdienen, da klang das für Günüssoy Sezgin nach Freiheit. Sie wollte mithelfen, ihrer Familie ein gutes Leben ermöglichen.

Für eine Untersuchung, medizinisch und schriftlich, fuhr sie also nach Istanbul. „Dann bin ich zu meinem Mann gegangen“, erinnert sie sich, „hab ihm gesagt: ‚Guck mal, die Einladung‘. Und er wollte, dass ich sie wegschmeiße. Aber ich habe ihm Honig um den Bart geschmiert: ,Wir wollen doch ein gutes Leben haben, das ist doch die Gelegenheit‘“.

Und so kam es, dass sie gute zehn Jahre nach Inkrafttreten des Anwerbeabkommens zwischen dem Nachkriegsdeutschland und der Türkei im August 1972 gemeinsam mit 39 weiteren türkischen Frauen in Frankfurt aus dem Flugzeug stieg. Mit dem Zug ging es weiter nach Dortmund, wo sie feierlich von einem Spielmannszug begrüßt wurden, und dann weiter mit dem Taxi nach Lünen. In der Unterkunft, einem Wohnheim für Frauen, standen zur Begrüßung Hähnchen und Pommes auf den Tischen. Flüssig erzählt Günüssoy Sezgin, kraftvoll und voller Witz.

Günüssoy Sezgin mit ihrer Tochter
Günüssoy Sezgin musste ihre Tochter (links) zunächst zurücklassen. © Kristina Gerstenmaier

Doch schnell wurde sie auf den harten Boden der Tatsachen geholt. Am nächsten Tag begann die Arbeit bei der Kabel- und Antennenfabrik Karl Stolle in Horstmar. Eine harte Arbeit, „immer laufen, immer laufen, schwer, sehr schwer“, erinnert sie sich und erzählt von Verständigungs- und Verständnisproblemen. Denn sie sprach zu dem Zeitpunkt noch kein Wort Deutsch. Als die Firma nach acht Jahren Pleite ging, wechselte sie zu Siba, wo sie Vollzeit arbeitete, bis es körperlich nicht mehr ging. 1990 musste sie wegen ihres Rückens, an dem sie zweimal operiert wurde, frühzeitig in Rente gehen und ist seither auf einen Rollator angewiesen.

Geld gab es bei Stolle zunächst keines, dann, nach ein paar Tagen, 15 Mark Vorschuss. „Und dann gab es die erste Abrechnung und ich habe gesehen, dass Pommes und Hähnchen und auch das Flugticket abgezogen waren“, erzählt sie. 380 Mark Lohn gab es pro Monat. „In der ersten Zeit habe ich nichts zu essen gehabt. Ich habe mir Nutella und Brot gekauft und das hinter der Tür gegessen, damit keiner was merkt, ich habe mich geschämt.“ Ihre Eltern waren arm, konnten sie nicht unterstützen. Außerdem war sie ja nach Deutschland gegangen, um „das große Geld“ zu machen.

„Ich könnte Romane erzählen“, sagt Günüssoy Sezgin und spricht darüber, wie ihr Mann, der gelernte Schuhmacher, nach einem Jahr kam, um sie zu holen und dann doch blieb und für Hölscher auf Baustellen zu arbeiten begann.

Und sie erzählt die abenteuerliche Geschichte ihrer Reise nach Griechenland im Sommer 1974, um ihre Tochter bei den Eltern ihres Mannes abzuholen, die auf der Insel Kos lebten. Günüssoy Sezgins Mann war gebürtiger Grieche. Das Paar hatte sich bei einer Hochzeit in Izmir kennengelernt. Im Sommer ´74 herrschte aufgrund des Versuchs, die herrschende Militärdiktatur zu stürzen, Ausnahmezustand. Unter größten Gefahren und für viel Geld reiste das Paar erst nach Athen und dann per Fähre nach Kos. Um dann, statt wie geplant ein paar Wochen zu bleiben, sofort mit der Tochter überstürzt wieder abzureisen. „Als ich meine Tochter sah“, erinnert sich die Seniorin, „rief sie nur ‚Papa, Papa, Papa‘. Zu mir sagte sie: ‚Das ist nicht meine Mama, meine Mama hat lange Haare‘“. Zu lange hatten die beiden sich nicht gesehen.

schwarz-weiß: Frauen laufen entlang eines Zaunes.
1980 ging die Kabel- und Antennenfabrik Karl Stolle Pleite. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter verloren ihren Job. © Günther Goldstein

Günüssoy Sezgin erzählt davon, wie sie zurück in Deutschland noch sechs Wochen Urlaub, aber kein Geld mehr übrig hatten. Und wie ein Landsmann am Flughafenschalter in Frankfurt ihnen einfach drei Tickets in die Türkei und zurück schenkte, damit Günüssoy Sezgin ihre Eltern wiedersehen konnte. Eine schöne Erinnerung.

In Deutschland war die Familie zwar endlich vereint, doch das Leben wurde immer härter. Inzwischen in eine kleine Zweizimmerwohnung gezogen, wurde Günüssoy Sezgin erneut schwanger. Mutterschutz gab es damals nur für sechs Wochen, und so arbeitete sie, gebar und entschloss sich schweren Herzens, ihren kleinen Sohn für viel Geld zu Pflegeeltern nach Recklinghausen zu geben. Nur an den Wochenenden kam er nach Hause. Und die Tochter, inzwischen eingeschult, war ein Schlüsselkind. „Manchmal bekam sie die Tür nicht auf und wartete auf den kalten Stufen vor der Wohnung“, erinnert sich Sezgin.

Würden sie es wieder tun? Würden Sie erneut mit 27 Jahren ganz alleine in Flugzeug steigen? Haben sich ihre Träume erfüllt? „Nein“, sagt Günüssoy Sezgin heute. „Es war sehr hart. Jeden Morgen um sechs Aufstehen, um viertel nach zwei Feierabend, dann einkaufen, eine halbe Stunde nach Hause laufen, Essen kochen, dann um die Kinder kümmern, abends um neun musste ich ins Bett. So müde war ich. Und die Kinder habe ich nicht richtig gesehen. Naja, alles vorbei.“

Vor zwölf Jahren ist ihr Mann gestorben. Aber davor konnten sie sich einen kleinen Teil ihres Traumes erfüllen: Eine große Wohnung in der Türkei zu kaufen, in die sie, nicht mehr berufstätig, immer wieder und immer länger reisten. Und eine kleine Rente gibt es auch.

Doch richtig zurück in die Türkei gegangen ist die Familie nie. „Meine Tochter wollte nicht zurück in die Türkei“, erzählt Günüssoy Sezgin, die inzwischen Großmutter von drei Enkeln ist.

„Hier haben meine Eltern nie Eigentum gekauft“, erzählt die Tochter. Wir hatten immer nur gebrauchte Möbel. Sie haben gespart für dort. Sie wollten immer zurück. Hier haben sie für neue Sachen nie Geld ausgegeben. Jedes Mal, wenn wir hingefahren sind, haben wir Pakete mitgenommen. Für später. Wir haben ‚für da‘ gespart und konnten nie da leben.“

Zwei Zimmer zu viert

Mit ihren beiden Kindern teilte sich Günüssoy Sezgin ein Zimmer, ihr Mann schlief auf dem Sofa im zweiten Zimmer. „Wir wurden immer größer“, erzählt ihre Tochter. Wenn wir in die Türkei fuhren, dann war es das größte Glück, ein eigenes Zimmer zu haben. Irgendwann wurden wir erwachsen, haben hier gelebt, hier studiert, hier Kinder bekommen und wollten nicht mehr zurück.“

52 Jahre lebt Günüssoy Sezgin nun in Deutschland – länger als je in der Türkei. Gearbeitet hat sie hier, hat Deutschland dabei geholfen, die Wirtschaft wieder aufzubauen. Einen Sprachkurs oder Bildungsangebote konnte sie nie besuchen. Einen deutschen Pass hat sie nicht. Das Land, das ihre Heimat, aber nicht ihres ist, durfte sie politisch nie mitgestalten: ohne Pass darf sie nicht wählen. „Und der Umgang mit Behörden war für meine Eltern sehr schwierig“, erzählt die Tochter. „Damals gab es keine Beratungsangebote, keinerlei Anlaufstellen oder Unterstützung. Deswegen waren sie froh, wenn sie mit den Behörden nichts zu tun hatten, nur gearbeitet haben. Sie hatten immer Angst vor den Behörden.“

Auch sie selbst hat bis heute, obwohl hier aufgewachsen und studiert, keinen deutschen Pass. Erst im vergangenen Jahr ist das reformierte Einbürgerungsgesetz in Kraft getreten, nach dem die doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt ist.

Ist Günüssoy Sezgin zufrieden, wenn sie auf ihr Leben zurückblickt? „Ich bin stark“, antwortet die 80-Jährige.