Norbert Sander ist heute Sportlicher Leiter beim SuS Olfen. Dass er nie wieder Trainer sein wird, damit hat er sich abgefunden. Eine Geschichte von Kampf, Lebensmut und Geduld.

Olfen

, 24.12.2019, 05:45 Uhr / Lesedauer: 6 min

Der 12. Mai 2019 war so ein Tag für Norbert Sander, an dem er so glücklich wirkte und herzlich lachte. Im Rollstuhl fuhr der Sportliche Leiter des SuS Olfen auf den Kunstrasen. Es gab herzliche Umarmungen. Den Bierduschen entkam Norbert Sander gerade so. Der Aufstieg, die Rückkehr in die Bezirksliga, den der Verein an diesem Tage feierte, war auch für den ehemaligen Trainer Sander ein besonderer Augenblick. Er streifte sich das grüne Aufstiegsshirt über mit dem Vereinswappen auf der Brust und dem Schriftzug „Bezirksliga ... wir sind wieder da!“ Man vergisst, was Norbert Sander die Jahre davor durchgemacht hat.

Dass Norbert Sanders Leben auf der Kippe stand, ist in Olfen kein Geheimnis. Die plötzliche schwere Not-Operation am Gehirn im Jahr 2017 überstand der 61-Jährige nicht ohne Beeinträchtigungen. „90 bis fast 100 Prozent meines vorherigen Lebens sind weg“, sagt Norbert Sander in seinem Wohnzimmer.

Norbert Sander hat die Operation noch gut überstanden

Dass er es überhaupt so weit zurück ins Leben geschafft hat, sehen Ärzte als kleines Wunder an. „Da hat mir natürlich auch der angeborene Ehrgeiz geholfen. Trotzdem bin ich nie zufrieden. Mein Lebensmotto war immer: Stillstand ist Rückschritt“, sagt Sander.

Und der Fortschritt ist ein langsamer Begleiter in den vergangenen zwei Jahren gewesen. „Meine schlechteste Eigenschaft ist am meisten gefordert gewesen, nämlich die Geduld. Ich war nie ein geduldiger Mensch, aber die wurde gefordert bis zum Gehtnichtmehr“, sagt Sander, „viele hätten nicht für möglich gehalten, dass ich da wieder hinkomme. Das muss ich mir immer wieder sagen.“

Norbert Sander kämpft sich zurück ins Leben

Das rechte Auge ist seit der OP gelähmt. Die linke Körperseite funktioniert nur, wenn sich Norbert Sander sehr auf sie konzentriert. Die Muskulatur ist mittlerweile wieder da im Bein und Arm. Aber nicht das Gefühl. Das gilt für die gesamte Körperseite. Sander fasst sich an den linken Hinterkopf. „Wenn mir hier jemand die Haare schneidet, merke ich das nicht“, sagt er. Es sei wie ein Taubheitsgefühl. Zudem fehlt der Gleichgewichtssinn.

Gehen kann Norbert Sander nicht, auch wenn er die Versuche noch nicht aufgegeben hat. „Innerhalb der ersten zwei Jahre hat man gehofft, dass es sein könnte, dass die zerstörten Nerven, die zuständig sind, sich wiederbilden. Es ist aber nicht passiert“, sagt Sander, „ich habe beschlossen, dass ich es so annehme. Ich gehe davon aus, dass es so bleibt, wie es jetzt ist.“

Norbert Sander hadert nicht mit dem Schicksal

Norbert Sander musste wieder lernen, zu schlucken und zu sprechen. Nach neun Monaten endete die künstliche Ernährung. Der 1,91 Meter große Sportler hatte zwischenzeitlich nur noch 65 Kilogramm gewogen - 25 Kilogramm weniger als vor der Erkrankung. Schlägt das Wetter um, merkt auch Sander das ganz extrem. Besonders Feuchtigkeit und Kälte sind problematisch.

Sander geht aber damit offen um und hadert nicht. Wenn man ihn fragt, kriegt man eine Antwort. Das ist nicht selbstverständlich. Heute sitzt Sander im Rollstuhl. Er weiß nicht, ob er eines Tages wieder laufen kann, und ob die Einschränkungen, mit denen er leben muss, wieder durch Therapien zu beheben sind. „Ich habe mich mit der Situation abgefunden. Ich habe gelernt, demütig zu sein. Ich bin nicht verzweifelt“, sagt Norbert Sander.

Die Trainerkarriere von Norbert Sander ist vorbei

Norbert Sander weiß aber auch, dass er auf den Trainingsplatz nie wieder zurückkehren wird, weil die Belastung zu groß wäre. „Manchmal fühle ich mich noch wie ein Trainer“, sagt er, nämlich dann, wenn er Spiele analysiert. Ansonsten gefällt ihm die Rolle als Sportlicher Leiter gut: „Ich glaube, dass ich eine ganze Menge steuern und bewegen kann.“

Sanders Erkrankung, die sein Leben völlig verändert hat, trat vor fast zwei Jahren auf. Alles begann mit einem Gefühl des Unwohlseins. Beim ersten Rückrundenspiel 2017, am 19. Februar, gewann der SuS Olfen mit 1:0 gegen den FC Marl. Alles war gut.

Norbert Sander war mit jeder Zelle Trainer

Doch Trainer Norbert Sander war nicht der Norbert Sander, wie man ihn kannte. Er ging an der Linie weniger mit, machte auch bei seiner ungewohnt kurzen Presseanalyse keinen fitten Eindruck. So kennt man Sander, den emotionalen, ehrgeizigen, aber auch sachlichen Trainer, der mit jeder Zelle seines Körpers gerne Trainer ist, sonst nicht.

Dieses Bild stammt vom 19. Februar 2017 - dem Spiel gegen den FC Marl. Es war sein letztes als Trainer auf der Olfener Bank.

Dieses Bild stammt vom 19. Februar 2017 - dem Spiel gegen den FC Marl. Es war sein letztes als Trainer auf der Olfener Bank. © Reith

„Während des Spiels merkte ich schon, dass es mir nicht gut ging“, sagt Sander. Mit Marco Jedlicka, der den gegnerischen FC Marl trainierte und den Sander gut kannte, saß er nach dem Spiel zusammen. Sander: „Du, Marco, mir geht’s überhaupt nicht gut. Ich glaub, ich muss nach Hause.“ Jedlicka: „Mensch, hau ab, du siehst echt nicht gut aus!“

Sander sucht ein Krankenhaus auf

Am nächsten Morgen wurde es nicht besser. Norbert Sander war schlecht und die Probleme des Schluckens, die er schon am Tag zuvor hatte, hatten sich verschlimmert. „Ich merkte: Da stimmt irgendwas nicht in meinem Kopf“, sagt Sander. Direkt am Morgen fuhr Norbert Sander mit seinem Bruder Werner in eine neurologische Fachabteilung einer Klinik nach Recklinghausen.

Norbert Sander vor der Operation. Er gestikuliert an der Bande und war Trainer aus Leidenschaft. Nun ist er auf den Rollstuhl angewiesen.

Norbert Sander vor der Operation. Er gestikuliert an der Bande und war Trainer aus Leidenschaft. Nun ist er auf den Rollstuhl angewiesen. © Sebastian Reith

Die Klinik hatten die Brüder gezielt angesteuert, weil Norbert Sander bereits 2016 eine damals verhältnismäßig glimpflich ausgegangene Einblutung im Kopf hatte. Seitdem wusste Sander auch, dass sich eine - wie er selbst sagt - „tickende Zeitbombe“ im Kopf befindet. Die Ärzte stellten im Zuge der Untersuchung fest, dass sich ein Kavernom, die Missbildung eines Blutgefäßes, im Stammhirn des Kopfes gebildet hatte. „Damals hieß es, dass es noch hält. Aber wenn es sich weiter mit Blut füllt, dann wird die Luft sehr dünn. Ich hatte es wahrscheinlich seit meiner Geburt und wusste es nicht“, erklärt Sander.

Kavernome können lebensgefährlich sein

Mit einem Kavernom verbunden sind häufig lebensgefährliche Einblutungen, die mit steigendem Alter aufgrund poröser Gefäßwände wahrscheinlicher werden. Was in Norbert Sanders Fall aber noch viel dramatischer war, war der Ort des Kavernoms.

Denn Operationen im Bereich des tief liegenden Stammhirns sind gefährlicher als an den Außenbereichen des Gehirns. Mehr Gewebe wird auf dem Weg zum Stammhirn beschädigt. Umso schwerwiegender sind oft spätere Folgen für den Patienten. Sander: „Da operiert man eigentlich nicht.“

Operation musste schnell erfolgen

Doch anders als noch wenige Monate zuvor vorhergesagt, traten die Probleme wesentlich schneller zutage, und in Recklinghausen bestätigten sich schnell die schlimmsten Befürchtungen. „Und dann standen die Professoren da vor mir und sagten: ‚Wir müssen innerhalb von 48 Stunden operieren, sonst haben Sie keine Überlebenschance.‘ Und sie selbst sagten, dass sie sich nicht trauen würden, diese Operation durchzuführen“, berichtet Norbert Sander.

Viel Zeit zum Nachdenken hatte er nicht. Mit einem Rettungswagen ging es in eine Klinik nach Essen. Kurze Zeit später folgte eine achtstündige Operation, bei der das Kavernom per Laser entfernt wurde.

Norbert Sander hatte einen großen Überlebenswillen

Heute weiß Norbert Sander, dass er viele Schutzengel gehabt hat. Gesunde Lebensweise, Sport und ein großer Lebenswille wirkten sich positiv auf seinen Zustand aus, obwohl er in der Klinik auch noch gegen eine Lungenentzündung und einen Keim kämpfte.

Betrat seine Frau Birgit Klemp, die keinen Tag von der Seite wich, das Zimmer, war ihr Lächeln für Norbert Sander „wie Doping, um weiterzukämpfen für den nächsten Tag.“ Auch ihr sei Norbert Sander den Kampf schuldig gewesen. „Ich habe eine unglaublich tolle Frau“, sagt Sander.

Norbert Sander lebte nach der OP in zwei Welten

Nach der Operation begann die Reha-Zeit - für Sander eine dunkle Zeit. „Ich war viele, viele Wochen in einer anderen Welt, von der ich dachte, sie sei die Realität. Ich hatte viele Träume, sicherlich auch durch die starken Medikamente. Es gab Phasen, in denen ich wusste, wo ich war. Aber oft war ich in einer Welt, in der ich permanent verfolgt wurde und man mir nach meinem Leben getrachtet hat. Es war eine extrem schlimme Zeit“, erzählt Sander. Viereinhalb Monate lag er im Krankenhaus.

Norbert Sander und U19-Trainer Wolfgang Rödiger arbeiten eng beeinander.

Norbert Sander und U19-Trainer Wolfgang Rödiger arbeiten eng beeinander. © Sebastian Reith

Dort erfuhr Sander vom Abstieg im Mai 2017 am letzten Spieltag. „Das ist mir sehr nahegegangen, weil wir viele Jahre versucht hatten aufzusteigen. Als ich aus dem Krankenhaus kam und wusste, dass ich eine zweite Chance bekommen habe, wollte ich dafür Sorge tragen, dass die Mannschaft wieder aufsteigt.“

SuS Olfen wird für Norbert Sander zu einer Lebensaufgabe

Gedächtnis- und Wissensverluste musste Sander durch die Operation nicht hinnehmen. Auch deshalb kann er überhaupt noch einige Stunden am Tag Planungen für den Verein übernehmen. Die Position des Sportlichen Leiters, die der Verein Norbert Sander übergab, ist zu einer Lebensaufgabe für ihn geworden.

„Ich bin froh, dass ich diese Aufgabe habe. Ich war Trainer mit Leidenschaft und habe gerne gearbeitet. Beides fiel weg. Das war ein riesengroßes Loch. Klar denkst du dir: Warum ausgerechnet ich? Aber wenn du das so oft sagst, zieht es dich psychisch runter“, sagt Sander.

Auf der Intensivstation holte Sander einen neuen Trainer

Redet er über Fußball, den SuS Olfen und seine Familie (manchmal weiß man nicht, ob er mit der Familie die SuS-Familie oder seine eigene meint), blüht Sander auf. Auf der Intensivstation liegend, verpflichtete er damals Trainer Michael Krajczy als seinen Nachfolger: „Ich wusste, dass er hier reinpasst.“

Sander muss es als Ur-Olfener wissen. Das Elternhaus, in dem er geboren wurde, liegt 300 Meter von der Stever entfernt. Um in das Obergeschoss zu gelangen, in dem Sander in einer gemütlichen Wohnung lebt, gibt es in dem engen Treppenhaus einen Lift.

Wenn Norbert Sander etwas auffällt, ist er sich nicht zu schade, drauf hinzuweisen.

Wenn Norbert Sander etwas auffällt, ist er sich nicht zu schade, drauf hinzuweisen. © Sebastian Reith

In Olfen ist er aufgewachsen. Viel mehr Olfener als Norbert Sander geht eigentlich nicht. Als ihn eine Verletzung dann früh zum Aufhören zwang, wurde er ganz jung Trainer beim SuS, coachte bereits Spieler, die heute Vorstandsmitglieder sind, wie Ralf Neugebauer, als dieser noch in der C-Jugend spielte. Danach trainierte Sander Klubs in den Fußballkreisen Recklinghausen und Gelsenkirchen - bis er nach Olfen zurückkehrte und 2015 den Aufstieg in die Bezirksliga schaffte.

SuS Olfen hielt dem Trainer den Posten frei

Zunächst wollte der Verein den Trainerposten auch freihalten, schuf dafür das Modell des Übergangstrainers. „Unser Trainer ist Norbert“, sagte Vorstandsmitglied Georg Lackmann, auch nachdem Michael Krajczy verpflichtet war. Sobald Sander genesen ist, sollte er auf den Trainerstuhl zurückkehren können. Und Sander sollte den Zeitpunkt selbst bestimmen.

Niklas Mählmann, Felix Schröder und Marvin Böttcher laufen zur Eckfahne, wo sie ein Tor mit Norbert Sander bejubeln.

Niklas Mählmann, Felix Schröder und Marvin Böttcher laufen zur Eckfahne, wo sie ein Tor mit Norbert Sander bejubeln. © Sebastian Reith

Aus der Übergangslösung wurde eine Dauerlösung. Norbert Sander habe schnell gemerkt, dass es eine längerfristige Trainerlösung braucht. „Als ich aus dem Krankenhaus kam, habe ich noch gehofft, aber dann merkte ich, dass sich alles nur um Nuancen verbesserte. Ich arrangiere mich damit“, so Sander.

Jetzt arbeitet Norbert Sander als Sportlicher Leiter

Sander hat nun mit daran gearbeitet, für eine nie dagewesene personelle Verzahnung zwischen Jugend und Senioren zu sorgen. Dreh- und Angelpunkt ist er selbst. Er erzählt von Jugendspielern, die erst vergangene Woche in seinem Wohnzimmer saßen, um ihnen die Olfener Philosophie vorzuleben. Dabei liest er nicht aus einem Märchenbuch vor, sondern schreibt die Vereinschronik der nächsten Jahre vor.

Sander besitzt Jahrgangslisten, damit er weiß, welcher Spieler wann in den Seniorenbereich aufrückt. Die Positionen der etablierten Spieler, die in einigen Jahren ihre Karriere beenden werden, möchte er mit den jungen Talenten bestücken. „Es ist für einen B-Jugendlichen gut, wenn er weiß, dass man ihn auf dem Schirm hat“, sagte Sander. Genau diese Jugendlichen klatschten nach dem Pokalspiel vor einer Woche alle an der Bande bei Sander ab. Die Geste zeigt sein Standing. Und: Norbert Sander hat seinen Platz gefunden.

Die B-Jugendlichen klatschen bei Norbert Sander nach einem Spiel ab.

Die B-Jugendlichen klatschen bei Norbert Sander nach einem Spiel ab. © Sebastian Reith