Sportpsychologe warnt: „Depressionen und Ängste werden steigen“ - auch im Amateursport

© René Paasch

Sportpsychologe warnt: „Depressionen und Ängste werden steigen“ - auch im Amateursport

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Wie schmerzhaft ist der zweite Lockdown für die Amateursportler-Seele? Wie sehr leiden zum Beispiel Fußballer, wenn sie in Quarantäne hocken müssen? Ein Sportpsychologe erklärt Risiken aber auch Chancen.

Dortmund

, 14.11.2020, 16:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

Dr. René Paasch ist Psychologe und Sportpsychologe. Der 46-Jährige bietet sportpsychologische Beratung und Betreuung im Breiten- und Spitzensport sowie Coaching im betrieblichen Umfeld und Gesundheitsförderung an. Im Interview hat er mit uns über den Lockdown, mögliche Quarantänemaßnahmen und Gefahren für die Amateursportler - insbesondere Kinder - gesprochen.

Herr Dr. Paasch, der erste Lockdown ist etwa acht Monate her. Welche Erfahrungen haben Sie aus psychologischer Sicht sammeln können?

Man merkt, dass die Menschen häufiger nachdenken und mehr

mit ihrem Kopf arbeiten. Ohne Corona haben die Menschen sehr stark funktioniert, waren im Sog der Leistungsgesellschaft. Jetzt merkt man, dass man stehen bleibt. Man hat mehr Zeit mit der Familie und mehr Zeit mit sich selbst. Wir definieren uns weniger über Größen wie Autos, Häuser oder Geld und besinnen uns mehr auf das Wesentliche.

Und bei Sportlern?

Das ist auch bei Sportlern der Fall. Auch hier gibt es das Bedürfnis, sich mitteilen zu wollen. Es ist ja so, dass nicht nur die Bewegung fehlt, sondern gerade bei Teamsportarten auch die regelmäßigen Treffen, die Gemeinsamkeiten in der Halle oder auf dem Platz. Die Normalität ist nicht mehr da. Der Mensch ist aber ein sehr soziales Wesen. Wir definieren uns darüber, mit anderen zusammen zu sein. Wir müssen nun Wege finden, trotzdem miteinander Zeit zu verbringen. Das Stichwort lautet dabei Digitalisierung.

Ist die Anfrage nach Therapieplätzen beziehungsweise Gesprächen in der Corona-Zeit bei Sportlern gestiegen?

Es ist so, dass wir eine Verdoppelung der Anfragen feststellen können. Dabei geht es aber nicht nur um Menschen, die beispielsweise eine depressive Verstimmung haben. Auch grundsätzlich ist die Nachfrage nach Fachleuten gestiegen. Viele Menschen haben nicht gelernt, mit so einer großen, herausfordernden Situation umzugehen. Die Leute suchen nach Alternativen - gerade in dieser kalten Jahreszeit mit wenig Licht.

Sie haben in einem vergangenen Interview mit dieser Redaktion auch darüber gesprochen, dass Sie einen Zauber in der Krise sehen: Menschen könnten sich in der Zeit selbst hinterfragen, neu ordnen, Dinge verarbeiten. Gilt das auch weiterhin?

Alleine von der Anatomie des Gehirns her ist der Mensch ein Suchender. Wir hören nicht auf, Dinge zu erfahren und Dinge zu erleben. Jetzt ist es eine neue Jahreszeit mit neuen Umständen. Die Menschen haben die Sorge, in Teilzeit zu gehen oder ihren Job zu verlieren. Die Erde dreht sich aber weiter. Deswegen ist es wichtig, dass der Mensch immer weiter an sich arbeitet. Der Mensch muss lernen, mit der Situation umzugehen. Da ist auch Selbstreflexion ganz schwierig.

Ist die Situation jetzt in der kalten, dunklen Jahreszeit denn noch einmal herausfordernder?

Absolut. Die Zeit wird schwieriger. Es gibt die Tendenz, dass Ängste und Depressionen steigen werden. Deswegen ist es wichtig, dass man auch anderen gegenüber sehr umsichtig ist. Wir sollten zusammenrücken, uns verbinden und aufmerksamer sein. Mut macht, dass diese Phase nicht dauerhaft ist.

Viele Spieler und Trainer mussten zuletzt für mehrere Tage, teilweise Wochen in Quarantäne. Was hilft, wenn die Sportler nicht einmal an der frischen Luft joggen gehen dürfen?

Die Sportler sollen auf jeden Fall in Bewegung bleiben, können zuhause beispielsweise ein funktionelles Training machen. Ich nenne so etwas auch biologische Notwendigkeit, das Leben zu erhalten und um sich weiterentwickeln zu können. Außerdem ist es wichtig, die Kontakte zu den Mitspielern oder zum Trainer aufrechtzuerhalten. Da hilft es wieder, wie eingangs erwähnt, die Digitalisierung zu nutzen. Die Sportler sollten offen über den aktuellen Zustand sprechen. Sie unterliegen ja auch einer so genannten Affektregulation. Das heißt, dass Menschen immer wieder auf der Suche nach Dingen sind, die sie beruhigen, die Nähe geben. Außerdem kann es helfen, dass sich die Sportler wieder Ziele setzen für die Zeit nach der Pandemie, indem sie Bilder für sich produzieren.

Sport ist für viele Menschen auch Ausgleich, wirkt oft als Ventil. Sehen Sie Gefahren, wenn Menschen über längere Zeit „eingesperrt“ sind?

Der Mensch braucht Ventile, gerade jetzt auch in Phasen, die wir nicht immer verstehen können. Psychische Erkrankungen sind durch die Einschränkungen möglich. Aber wir wissen ja nicht, wie die Welt vorher beim entsprechenden Spieler gelaufen ist - zum Beispiel, ob er sich stark über die Leistung definiert hat. Dass mehr traurige Phasen hinzukommen, können wir nicht ausschließen.

Inwieweit hilft der Sport in solchen Phasen denn konkret dem Gehirn?

Wir brauchen den körperlichen Ausgleich. Sport hat viele positive Effekte für die Gesundheit. Wenn Sportler keinen Sport ausüben dürfen, dann können sie unausgeglichener sein, haben eine andere Spannung und einen anderen Hormonhaushalt. Deswegen ist es wichtig, dass sie sich den Sport so gut wie möglich beibehalten und alles, was man machen kann, macht, um am Leben teilzunehmen.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und sucht nach Routinen: Ist dieser ständige Wechsel zwischen Spielbetrieb und Pause nicht schädlich für die Psyche?

Schädlich kann man nicht sagen, er ist aber belastend. Sportler, die widerstandsfähiger sind, kommen mit der Lage besser zurecht, als Sportler, die nicht gelernt haben, mit solchen Widrigkeiten umzugehen. So kann ein Ungleichgewicht entstehen, dazu Unruhe.

Noch ist völlig unklar, wann und wie es mit dem Trainings- und Spielbetrieb weitergeht. Was hilft gegen diese Ungewissheit?

Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass es wieder anders wird. Wir müssen uns positive Bilder malen, sie geben uns eine Richtung und stärken uns. Wichtig ist auch die Akzeptanz und die Situation so anzunehmen, wie sie ist. Wir haben eine große Chance, aus den Dingen zu lernen.

Die Sportler sind erst einmal auf Einzelsport angewiesen: Wie wirkt sich dieser im Vergleich zum Teamsport auf die Psyche aus? Als Beispiel: Manch ein Sportler beweist sich vielleicht gerne vor anderen, sodass es ihm nicht so viel gibt, wenn er jetzt allein Sport treiben muss. Manchem ist vielleicht auch der Teamgedanke besonders wichtig...

Absolut. Durch die Digitalisierung schafft man im Verein andere Möglichkeiten, um sich gegenseitig zu motivieren. Damit man all das nicht verliert, ist es ganz wichtig, dass die Spieler und Trainer die Kommunikation hochhalten.

Viele Vereine beklagen, dass die Sportler – allen voran Kinder und Jugendliche – nicht trainieren dürfen, dafür aber in die Schule müssen. Was sagen Sie dazu?

Sport ist für Kinder und Jugendliche absolut wichtig. Sport ist ein wichtiges Thema, um das Immunsystem zu stärken, Beziehungen aufzubauen und zusammen zu sein. Politisch kann ich die Entscheidung aber verstehen. Die Kinder gehen ja vordergründig zur Schule, damit die Eltern nicht zuhause bleiben müssen. Viele Schulen würden gerne Homeschooling machen. Ich kann aber auch die Eltern verstehen. Kinder brauchen gerade jetzt die Natur und den Sport. Ich würde mir ein bisschen mehr Freiheit für die Kinder wünschen.

Was passiert mit dem Gehirn der Kinder, wenn sie draußen keinen Sport machen dürfen?

Es wird nicht verkümmern, aber es wird so sein, dass die Kinder eine unglaubliche Sehnsucht haben. Sie werden sich andere Ventile suchen, einfache Ventile. Kinder sitzen dann wahrscheinlich vor den digitalen Medien. Das ist die schlechteste Alternative. Ich halte es nicht für den richtigen Ansatz, den Vereinssport zu sperren.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Leute auch nach der Pandemie Vorbehalte oder Ängste vor Sport in der Gruppe behalten. Also: Werden die Vereine dauerhaft Mitglieder verlieren?

Die Vereine werden Mitglieder verlieren, ja, weil Kinder und Eltern sorgenvoll in die Zukunft schauen. Es ist so, dass Familien jetzt Aufklärung und Sicherheit brauchen. Es wäre schön, wenn auch der Verein die Kompetenz geben kann, die Menschen aufzuklären.

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