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Professorin warnt: Coronavirus-Pandemie kann für Kinder und Jugendliche schlimme Folgen haben
Jugendsport
Welche Spuren die oft sportlose Zeit der letzten zwölf Monate hinterlassen wird, ist noch kaum abzusehen. Schon jetzt zeichnet sich jedoch ab, dass sich nicht nur Breitensportler neu orientieren.
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Sportvereinen im Jahr 2020 hat gezeigt, dass viele Sportlerinnen und Sportler den Vereinen den Rücken gekehrt haben. Und das betrifft nicht nur Freizeitsportler, sondern auch den Nachwuchs(leistungs)sport. Trainer und Wissenschaftler warnen vor einer „gravierenden Talentlücke“ nahezu alle Sportarten.
Miriam Kehne, Professorin an der Uni Paderborn und Leiterin des Arbeitsbereiches Kindheits- und Jugendforschung im Sport, sieht mit Sorge, dass besonders eine Altersgruppe besonders stark mit Motivationsproblemen zu kämpfen hat: „Wir gehen davon aus, dass die Pubertätsfalle sich im Leistungssport noch verschärft.“ Vor allem die Altersgruppe der 12- bis 14-Jährigen könnte zu den großen Verlierern gehören.
Im Interview erklärt sie, warum Kinder und Jugendliche dem Sport besonders leicht verloren gehen könnten:
Wie wird die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie beeinträchtigt?
Kehne: „Das Problem ist ja, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zeitliche Fenster haben für bestimmte Entwicklungsprozesse. Alle Kinder, die jetzt nichts machen konnten, konnten diese individuellen Fenster nicht nutzen, um sich in ihrer Sportart und ganz grundsätzlich motorisch weiterzuentwickeln. Das heißt, es wird jetzt nicht nur kurzfristig einen Leistungseinbruch geben, sondern auch langfristig, weil diese Gruppen tatsächlich die Zeitpunkte verpasst hat, bestimmte motorische Aspekte auszubilden. Und das werden sie vermutlich auch so nicht mehr aufholen können.“

Professor Miriam Kehne von der Uni Paderborn. © Uni Paderborn
Besonders betroffen sind Kinder- und Jugendliche, die auf hohem Niveau an der Grenze zum Leistungssport aktiv sind?
Kehne: „Für sie wird es schwer, wieder auf ihr Niveau zu kommen. Der Trainingsprozess geht weiter, aber diese spezifischen Fenster für die besonderen motorischen Entwicklungsprozesse gehen wieder zu. Das heißt nicht, dass man da gar nichts mehr machen kann. Aber das wird auf jeden Fall Verluste bringen.“
Erwarten Sie Leistungseinbrüche?
Kehne: „Man muss sehen, was die lange Pause mit diesen Gruppen junger Sportler in der Leistungsspitze macht. Und es würde mich nicht verwundern, wenn es da in bestimmten Jahrgängen in Zukunft akute Leistungseinbrüche geben wird.“
Warum ist die Gruppe der Pubertierenden besonders betroffen? Sind in dieser Altersgruppe die Sprünge in der Leistungsentwicklung sonst besonders groß?
Kehne: „In dieser Altersgruppe endet die motorische Grundlagenentwicklung junger Menschen. Und bei den sportlich Aktiven beginnt die Phase der Spezialisierung. Deswegen ist der Ausfall von Sport an dieser Stelle auch so besonders kritisch zu bewerten. Junge Sportlerinnen und Sportler bringen in diesem Alter alle Voraussetzungen mit, verpassen aber die Möglichkeit sich zu spezialisieren. Das ist genau die Schnittstelle zum Leistungsanstieg in der Sportart, die sie für sich gefunden haben.“
Kann es die Gruppe der 12- bis 14-Jährigen besonders schwer verkraften, an dieser Schnittstelle unbegleitet durch kontinuierliches Training zu sein. Oder sind da alle Jahrgänge gleichermaßen betroffen?
Kehne: „Grundsätzlich sind natürlich alle Jahrgänge davon betroffen. Man schreibt aber der Pubertät einen ganz besonderen Entwicklungsvollzug zu. Dadurch kann dort jetzt durch die Ausfälle ein besonders großes Nachholbedürfnis entstehen.“
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Vereinen zeigt, dass 2020 überdurchschnittlich viele Mädchen die Vereine verlassen haben.
Kehne: „Mädchen treten früher und vermehrt aus Sportvereinen aus als Jungs. Das ist zunächst mal unabhängig vom Leistungsniveau – betrifft auch junge und besonders leistungsstarke Sportlerinnen. Bei Mädchen setzt die Entscheidung anderen Interessen und Hobbys nachzugehen eher ein und auch häufiger in der Konsequenz gegen den Sport. Das belegen zahlreiche Kinder- und Jugendstudien. Und das macht sich unter den Voraussetzungen der letzten zwölf Monate nochmal besonders stark bemerkbar.“

Fitnesstraining vor dem heimischen Fernseher ist immer nur die zweitbeste Lösung. © picture alliance/dpa/PA Wire
Aber entwickeln gerade Sportlerinnen und Sportler, die ein hohes Niveau erreicht haben, nicht eine besondere Bindung zu ihrer Sportart?
Kehne: „Das ist einerseits richtig. Aber andererseits ist es auch so, dass ab einem gewissen Leistungsniveau der Sport für die betroffenen Jugendlichen der Lebensinhalt ist. Und dieser Lebensbereich ist im Laufe eines Jahres fast völlig weggebrochen. Das heißt gegenüber anderen Kindern, die vielleicht Sport machen, aber nicht auf so hohem Niveau und mit so hohem Einsatz, bricht diesen Jugendlichen auch ein Großteil ihres sozialen Umfeldes weg. Aber gerade der soziale Kontext, also die Trainingsgruppe oder die Mannschaft ist ein extrem wichtiger Punkt im Sport.“
Wie kann eine Rückkehr gelingen?
Kehne: „Wenn man jetzt mal perspektivisch guckt, dann brauchen wir Strategien, um Kinder und Jugendliche zum Sport zurückzubringen, noch bevor der ganze Ligabetrieb wieder losgeht. Und diese Rückkehr darf auch spielerisch sein. Das heißt z.B., nicht warten, bis man zwei vollständige Mannschaften zusammen hat, sondern einfach auch Basketball 3 gegen 3 spielen. Die lange Sommerpause sollte man nutzen, wenn es möglich ist.“
Droht noch eine zweite Drop-out-Welle nach den ersten Trainingseinheiten, weil man frustriert darüber, wieviel an Leistungsfähigkeit verlorengegangen ist?
Kehne: „Ich glaube, dass das passieren wird. Die Vereine werden zunächst großen Zuspruch von den Dabeigebliebenen erfahren. Wenn aber die Erkenntnis reift, dass die Leistungseinbußen so groß sind, um nochmal richtig anzuknüpfen, kann auch das für viele Sportlerinnen und Sportler zum Anlass werden, auszusteigen. Und diese Ausstiegsgedanken werden nicht nur in den ersten paar Wochen präsent sein. Sondern das wird noch über Monate eine Rolle spielen.“
61er-Jahrgang aus Bochum, seit über 35 Jahren im Journalismus zu Hause - dem Sport und dem blau-weißen VfL schon ewig von Herzen verbunden - als Sportredakteur aber ein Spätberufener.
