Es war eine außergewöhnliche und richtungsweisende Ansprache, mit der BVB-Präsident Dr. Reinhard Lunow auf der Jahreshauptversammlung von Borussia Dortmund für mehr als vier Minuten den Fußball in den Hintergrund rückte. Der Fokus lag auf einem der größten Skandale im deutschen Handball: die Vorwürfe gegen den ehemaligen BVB-Trainer André Fuhr.
„Mein besonderer Dank gilt den Spielerinnen Mia Zschocke und Amelie Berger“, erklärte Lunow. „Es waren diese beiden Spielerinnen, die den Mut hatten, diese Missstände offen anzusprechen. Sie haben damit einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung dieser Zeit geleistet.“
Seine Worte verdeutlichten nicht nur die Anerkennung für den Mut der beiden Nationalspielerinnen, die Tage zuvor bereits von der Rede erfahren haben, sondern waren auch ein klarer Fingerzeig in Richtung der damaligen Führung der Handball-Abteilung.
Diese stand zum Zeitpunkt der Vorfälle unter der Leitung von Abteilungsleiter Andreas Heiermann sowie Rupert Thiele, der zum damaligen Zeitpunkt erst einige Monate zweiter Vorsitzender war und mittlerweile Abteilungsleiter ist. „Wir hätten früher und umfassender auf diese Vorwürfe reagieren müssen“, fügte Lunow hinzu. Ein eindeutiges Schuldeingeständnis des Klubs, welches der BVB-Präsident in seiner Rede noch weiter ausführte: „Ihr Handeln hat es erst möglich gemacht, dass wir uns als Verein diesem Thema stellen und notwendige Veränderungen anstoßen konnten. Sie haben sich sehr um den BVB verdient gemacht, und dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen. (...) Ich möchte mich ausdrücklich bei Ihnen entschuldigen, bei den beiden Spielerinnen, dass wir nicht früher und umfassender auf diese Vorwürfe (...) reagiert haben.“
Die komplette Rede von Dr. Reinhard Lunow zu den Vorfällen in der Handball-Abteilung
„Es geht um die Reflexion interpersoneller Gewalt im Handball. (...) In den letzten Monaten haben wir intensiv die vergangenen Vorkommnisse in der Handballabteilung noch einmal reflektiert und umfassend dokumentiert. Im Rahmen dieser Reflexion wurden Gespräche mit verschiedenen Personen und Funktionsträgern der Handballabteilung sowie Betroffenen geführt, um ein detailliertes Verständnis der Wahrnehmungen und Erfahrungen der Beteiligten während der Vorkommnisse zu gewinnen. Ziel dieser Gespräche war es, individuelle Erlebnisse sowie mögliche strukturelle und organisatorische Verbesserungsbereiche zu identifizieren.
Diese Reflexion diente dazACu, Abläufe und Handlungsschritte zu analysieren und daraus fundierte Empfehlungen für zukünftige Prävention und Interventionsmaßnahmen abzuleiten. Zudem werden wir die Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der Schutzkonzepte zum Schutz vor interpersoneller Gewalt einarbeiten. Die Aufbereitung und die Reflexion der Vorkommnisse in der Handballabteilung liegen uns jetzt vor.
Wir zeigen, dass die sportlich erfolgreiche Zeit in den Jahren 2019 bis 2022 auch Momente beinhaltete, die einer kritischen Betrachtung bedürfen. Ich möchte mich bei allen bedanken, die bei der Aufarbeitung dieser Zeit mitgeholfen haben, damit der Verein – und das bezieht sich nicht nur auf den Handball, sondern auf alle Abteilungen – durch diese Ergebnisse die Stärken und Schwächen interner Strukturen und Bereiche mit Verbesserungspotenzial erkennt und durch entsprechende strukturelle und kulturelle Veränderungen eine sichere und unterstützende Umgebung schaffen kann.
In den Gesprächen mit den Spielerinnen war ein häufig genannter Wunsch: „Wir brauchen mehr weibliche Ansprechpartner.“ Diesem Wunsch kommen wir nach. In den nächsten Tagen werden Sie dazu mehr hören. Mein besonderer Dank aber gilt den Spielerinnen Mia Zschocke und Amelie Berger (...). Es waren diese beiden Spielerinnen, die den Mut hatten, diese Missstände offen anzusprechen. Sie haben damit einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung dieser Zeit geleistet.
Ihr Handeln hat es erst möglich gemacht, dass wir uns als Verein diesem Thema stellen und notwendige Veränderungen anstoßen konnten. Sie haben sich sehr um den BVB verdient gemacht, und dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen.
Ich möchte mich ausdrücklich bei Ihnen entschuldigen, bei den beiden Spielerinnen, dass wir nicht früher und umfassender auf diese Vorwürfe (...) reagiert haben. Es ist entscheidend, dass wir jetzt sicherstellen, dass die Frauen, die den Mut hatten, ihre Stimmen zu erheben, nicht weiter öffentlich diffamiert werden. Ich verspreche Ihnen, dass Borussia Dortmund alles in seiner Macht Stehende tun wird, um für Gerechtigkeit und Wahrheit zu sorgen.“
Stillschweige-Vereinbarung unterzeichnet
Im Spätsommer 2022 spitzte sich die Situation um den damaligen BVB-Handballtrainer André Fuhr zu. Die damaligen Borussia-Spielerinnen Mia Zschocke und Amelie Berger erklärten, dass sie nicht länger unter seiner Regie spielen könnten. Um ihre Vertragsauflösung durchzusetzen, mussten sie eine Stillschweigen-Vereinbarung über die Vorkommnisse beim BVB unterzeichnen.
Fuhr und Borussia Dortmund lösten den Vertrag im Oktober 2022 auf, sein Engagement im Junioren-Bereich des DHB endete.

Eine unabhängige Aufarbeitungskommission des Deutschen Handballbundes (DHB) sollte den Fall aufklären. Doch auf Initiative von Fuhr stoppte das Oberlandesgericht Hamm die Arbeit der Kommission.
Das Landgericht Dortmund bestätigte diese Entscheidung Anfang November und wies darauf hin, dass die Satzung des DHB eine solche Kommission nicht vorsieht und dem Trainer nicht die Möglichkeit gegeben worden sei, sich zu den Vorwürfen zu äußern.
„Das Urteil ist ein Wendepunkt in diesem Fall“, erklärte Fuhrs Anwalt Markus Buchberger gegenüber der „SportBild“. „Die Kommission verletzte elementare Verfahrensrechte meines Mandanten und widersprach der Unschuldsvermutung.“ Buchberger betonte, dass Fuhr bereit sei, sich in einem fairen Verfahren zu äußern. „Objektive Aufklärung geht vor Aufarbeitung“, fügte er hinzu.

Die juristische Auseinandersetzung hat eine breitere Diskussion über Machtstrukturen im Sport ausgelöst. DHB-Präsident Andreas Michelmann bezeichnete die Situation als symptomatisch für „strukturelle Probleme“ in Bereichen, die von engen Vertrauensverhältnissen geprägt sind.
„Wir sehen Fälle bei der katholischen Kirche, in der Schule und im Sport – überall da, wo Personen eng in Kontakt mit jungen Menschen stehen“, sagte Michelmann dem „Tagesspiegel“.
Kritik kam auch von der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, die das Urteil als „fatales Signal“ für Sportverbände bezeichnete: „Es zeigt, wie wichtig es ist, dass der Sport Aufarbeitungsprozesse rechtlich und organisatorisch besser absichert.“
Zschocke und Berger kritisieren den DHB
Zschocke und Berger haben seit dem Ende ihrer Zeit beim BVB ihre Handballkarrieren fortgesetzt, doch der Fall Fuhr begleitet sie weiter. Berger, die zuletzt wegen „belastungstechnischer Gründe“ nicht für die EM zur Verfügung stand, sprach von einer „enormen Kraftanstrengung“, sich mit dem Fall auseinanderzusetzen. „Für unser Recht zu kämpfen war nicht nur für uns, sondern auch für unsere Familien belastend“, sagte Zschocke in einem Interview mit dem „Spiegel“.
„Alles kam wieder hoch: die Ausraster, Schimpftiraden und Psychospielchen“, erzählten sie Anfang November mit Blick auf das juristische Verfahren. Berger ergänzte: „Ich dachte bis zum Sommer, okay, jetzt hast du alles erzählt, das Kapitel Fuhr kannst du erst mal abhaken. Aber nach dem ersten Gerichtsurteil kam natürlich viel wieder hoch.“
Die beiden Spielerinnen kritisieren zudem die Haltung des DHB und den Umgang innerhalb des Nationalteams. Berger berichtete, dass sie erst zwei Jahre nach Bekanntwerden der Vorwürfe wieder kontaktiert wurde: „Das war schon etwas seltsam. Zwei Jahre lang kam nichts, und dann ruft uns der DHB plötzlich an, weil er Aussagen für seine Anwälte brauchte.“
„Das Thema wurde totgeschwiegen, auch innerhalb des Teams. Der Verband hat mit drei, vier Betroffenen gesprochen. Aber danach galt das als erledigt. Das ist Teil des Systems, das solche Vorfälle erst trägt“, so Zschocke, während Berger den internen Umgang preisgab: „Vor der Europameisterschaft 2022 wurde uns von den Verantwortlichen im Verband klargemacht, dass das Thema im Team keinen Platz habe.“

Fuhr selbst äußerte sich im Oktober 2023 ausführlich. In einem Interview mit der „SportBild“ erklärte er, dass die Anschuldigungen teilweise auf „Wahrnehmungen und persönlichen Empfindungen“ basierten. „In 20 Bundesliga-Jahren gibt es da sicher Situationen, die auch ich heute anders lösen würde, die ich bedaure“, sagte Fuhr. „Ich habe in den letzten Monaten viel reflektiert und mit professioneller Hilfe an mir gearbeitet.“
Seine Zeit beim BVB bewertete Fuhr differenziert. „Und natürlich ist es einfach zu sagen, so war es aber nicht, oder der Kontext ist nicht richtig wiedergegeben, aber hier ist es ja viel komplexer. Es geht vor allem um Wahrnehmungen und persönliche Empfindungen, die kann man niemandem absprechen.“ Dennoch gab er zu, dass die Zustimmung zu einem Auflösungsvertrag im Oktober 2022 „mein größter Fehler war“.
Andreas Heiermann, der damalige Abteilungsleiter der BVB-Handballerinnen, verteidigte Fuhr in Teilen in einem Interview mit der „SportBild“ im Oktober 2023, räumte aber auch Versäumnisse ein. „André ist ein Typ, dem kommt man nicht so nah. Ich glaube nicht, dass er eine emotionale Bindung zu seinen Spielerinnen hatte“, sagte Heiermann. Auf die Frage, warum Fuhr den BVB verlassen musste, erklärte er: „Ich weiß es bis heute nicht, ob er sich etwas hat zu Schulden kommen lassen. (...) In Dortmund war man offenbar froh, dass man Ruhe hat.“
Aufklärung der Vorwürfe ist ausstehend
Der Fall Fuhr ist mehr als ein Einzelfall. Er offenbart Versäumnisse bei Vereinen, Verbänden und Aufarbeitungsprozessen. Die öffentliche Entschuldigung von Dr. Reinhard Lunow und die kritische Reflexion beim BVB sind ein wichtiger Schritt, doch die Aufklärung der Vorwürfe bleibt ausstehend.
Fuhrs eigene Worte verdeutlichen die Tragweite des Falls, wie er im „SportBild“-Interview erklärte: „Mein Leben war seit über 20 Jahren der Handball. (...) In meinem Leben lag von heute auf morgen kein Stein mehr auf dem anderen. Ich bin ja nicht nur beruflich isoliert, sondern auch sozial und gesellschaftlich..“
Für Zschocke und Berger ist der Fall noch lange nicht abgeschlossen. „Wir brauchen mehr Struktur und Menschlichkeit im Umgang mit solchen Vorwürfen“, forderte Zschocke im „Spiegel“. Berger fügte hinzu: „Es muss klar werden, dass solche Dinge nicht ohne Konsequenzen bleiben dürfen.“