
© Joachim Lücke
SSV Rhade praktiziert das „Torwartspiel 3.0“ – Was genau ist das?
Fußball-Taktik
Die Spiele der Fußballerinnen des SSV Rhade bieten in der Westfalenliga eine Besonderheit. Torhüterin Jennifer Radüchel spielt mit ihren Verteidigern eine Torwartkette. Die Taktikanalyse.
Wer die Spiele der Westfalenliga-Fußballerinnen des SSV Rhade aufmerksam verfolgt, trifft auf eine ungewohnte Art des Torwartspiels. Torhüterin Jennifer Radüchel spielt mit ihren Innenverteidigern die Torwartkette. Ihr Trainer Dirk Bessler nennt es das „Torwartspiel 3.0“. Doch was genau ist eine Torwartkette?
Torwartkette bedeutet, dass sich der Torwart auf die Höhe der Innenverteidiger begibt und mit diesen zusammen den Spielaufbau gestaltet. Viele Vereine nutzen dafür einen Mittelfeldspieler, abkippender Sechser wird das genannt. Der SSV Rhade dagegen spielt das Ganze mit der eigenen Torhüterin.
Der größeren Öffentlichkeit bekannt wurde dieses Spiel vor knapp zwei Jahren, als es der Hamburger SV unter Trainer Christian Titz eine Zeit lang spielte. Auch bei seiner letzten Station, RW Essen, implementierte Titz die Torwartkette in der Regionalliga. Zuvor war sie lediglich Taktik-Nerds ein Begriff.
Drei verschiedene Arten der Torwartkette
Zuerst muss unterschieden werden zwischen einer tiefen, mittelhohen und hohen Torwartkette. Die tiefe Torwartkette, so lediglich in der Theorie genannt, spielen mittlerweile viele Vereine. Da geht es darum, den Torwart mit einzubeziehen, wenn der Gegner ein Angriffspressing spielt. Der Torwart dient dann als Durchgangsstation und soll helfen, den Ball in den eigenen Reihen zu halten.
Bei der mittelhohen Torwartkette rückt der Torwart bei eigenem Ballbesitz bis Mitte der eigenen Hälfte zwischen die Innenverteidiger. Wenn der Gegner also ein Mittelfeldpressing spielt, soll er durch einen Mann mehr im Mittelfeld vor schwierigere Aufgaben gestellt werden.
Breiteres Spiel, schnellere Verlagerung
Zudem soll das Spiel in die Breite gezogen werden. Durch den Torwart in der Mitte der Aufbaureihe kann schneller verlagert werden. Es bietet sich zudem die Möglichkeit, die Außenspieler aufgrund der kürzeren Distanz leichter mit Chip-Bällen zu erreichen.
In der Form der hohen Torwartkette rückt der Keeper teilweise bis zur Mittellinie zwischen die Innenverteidiger vor. In dieser bietet er sich gezielt an und schiebt auf die Position des Innenverteidigers, wenn dieser aufrücken sollte. Das ist die riskanteste Art dieses Spiels.

Die hohe Torwartkette ist die aggressivste Form dieser Taktik. Aus der Ausgangssituation (kleiner Innenverteidiger und Torwart) dribbelt der Innenverteidiger mit dem Ball in den Rücken der Stürmer an. Der Torwart schiebt auf dessen Position rüber und bietet sich für einen eventuellen Rückpass an. Dem Innenverteidiger bietet sich auf links zusammen mit dem Außenverteidiger, Außenstürmer und dem linken Achter eine vier-gegen-drei-Überzahl. © Niklas Berkel
Der SSV Rhade spielt meist die zweite Form dieser Taktik. „Wir wollen die Torwartkette nutzen, um Überzahl gegen die verteidigende Mannschaft zu bekommen“, erklärt Rhades Trainer Bessler den Grund, warum seine Mannschaft diese riskante Art, Fußball zu spielen, betreibt.

Die Vorteile einer mittelhohen Torwartkette, hier verteidigt der Gegner im 4-4-2-System, sind die Überzahlspiele vier-gegen-zwei in der ersten Linie und drei-gegen-zwei hinter den Stürmern. Zudem besteht die Möglichkeit, dass die Innenverteidiger den freien Raum hinter den Stürmern attackieren. Dann schaffen sie wieder Überzahl im Mittelfeld. © Niklas Berkel
Weil seine Torhüterin Jennifer Radüchel zudem sehr spielstark ist, kam er auf die Idee, das auszuprobieren. Es ist ein außergewöhnlicher Anblick, wenn sich die Torhüterin auf einmal Richtung Mittellinie begibt. Teilweise dribbelt Radüchel sogar selber an, dann steht sie für den Moment auf einmal sogar noch vor den Innenverteidigern.
Der Vorteil dabei liegt auf der Hand. Ziel ist es, durch die Überzahl in der ersten Linie, die Innenverteidiger frei zu spielen. Sie können dann mit dem Ball den freien Raum hinter den Stürmern attackieren. Das ist ebenfalls das Ziel, wenn Teams mit einem abkippenden Sechser spielen. Doch dann fehlt eine Anspielstation im Mittelfeld. Die wird dadurch, dass Radüchel diese Position einnimmt, wieder frei.

So spielen es die meisten Mannschaften: Der zentrale Spieler in der Abwehr spielt gegen den Ball im Mittefeld, lässt sich aber im eigenen Ballbesitz zwischen die beiden Innenverteidiger fallen, um Überzahl gegen die beiden Stürmer herstellen zu können. Im Mittefeld ist so aber Gleichzahl. © Niklas Berkel
Dass das Risiko bei einer solch extremen Form des Torwartspiels aber groß ist, weiß auch Bessler. „Man kann so etwas nur spielen, wenn der Torwart spielerisch stark genug und sehr ballsicher ist. Er darf nicht hektisch werden, wenn er mal Druck von einer oder von beiden Seiten bekommt“, so der Trainer. Deswegen trainiert der SSV Rhade diese Art des Torwartspiels auch ständig. „Wir beziehen Jennifer spielerisch immer mit ein im Training, auch in hohen Drucksituationen, damit sie sich daran gewöhnt.“
Ganz ohne Nervosität geht‘s nicht
Jennifer Radüchel hat die Ballsicherheit und die Spielstärke. Ganz ohne Nervosität kann sie die hohe Torwartkette dann aber auch nicht spielen. „Ich bin da auch schon etwas nervös, das gewisse Risiko ist ja auch da. Aber wir merken einfach, dass wir viel mehr Platz haben, wenn ich mitspiele.“
Ihren Trainer lobt die Torhüterin für dessen Mut. „Einen besseren Trainer könnten wir uns da gar nicht vorstellen. Er interessiert sich auch viel für neue Sachen und versucht immer, Dinge zu optimieren.“ Viele im Umkreis spielen diese Art des Torwartspiels aber nicht, das weiß auch Radüchel. Sie und der SSV Rhade sind in dieser Hinsicht etwas Besonderes.
Jennifer Radüchels Bruder Marvin, Nummer eins beim Westfalenligisten RW Deuten, sieht eher die Risiken als die Vorteile einer derart extremen Art der Torwartkette. „In der Theorie klingt das ganz gut, aber man chippt als Torwart am Ende auch viele hohe Bälle vorne rein.“ Die spielerische Lösung zu finden, wird dann schwierig.
Die tiefe Torwartkette dagegen bewertet er positiv. Ein Torwart auf dem Niveau, auf dem sich er und seine Schwester befinden, sollte in der Lage sein, einen Pass über 40, 50 Meter an den Mann zu bekommen. Auch sollte er sich ständig aus dem Deckungsschatten bewegen, um der eigenen Mannschaft eine zusätzliche Option unter Druck zu schaffen. Allerdings ohne sich selber unbedingt in Drucksituationen zu bewegen.

Die tiefe Torwartkette nutzen bereits viele Mannschaften, wenn der Gegner ein Angriffspressing spielt. Der Torwart dient als zusätzliche Anspiel- und Durchgangsstation. Er soll in dieser Form den Spielaufbau nicht selber gestalten, sondern mithelfen, den Ball in den eigenen Reihen laufen zu lassen. © Niklas Berkel
Auch Marvin Radüchels Trainer, Markus Falkenstein, ist zwiegespalten. „Ich habe mich damit noch nie beschäftigt. Die Risiken sind aber schon enorm groß.“ Grundsätzlich müsse man als Trainer aber auch immer offen für neue Ideen sein, wenn sie der Mannschaft helfen können.
„Vielleicht kann er ja noch ein bisschen von mir lernen“
Davon, dass ihr Bruder ihr Spiel bei RW Deuten kopieren könnte, ist die Schwester überzeugt, „Er könnte das auch. Vielleicht kann er ja noch ein bisschen von mir lernen“, sagt sie lachend. Bruder Marvin sieht das ähnlich: „Das nimmt sie zwar gerne als Witz mit. Aber natürlich kann ich von ihr auch lernen.“ Wobei: Die hohe Torwartkette wird man in Deuten wohl eher nicht sehen.
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