Dialyse, Reanimation und Ölunfall Ralf Rusche geht ran, wenn die 112 gewählt wird

Feuerwehr und Rettungsdienst: Ralf Rusche geht ran, wenn die 112 gewählt wird
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„Meine Frau kann es wirklich vor Schmerzen nicht mehr aushalten“, schildert der Mann am anderen Ende der Leitung, die Situation. Bereits zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde wendet er sich an die Leitstelle. Jetzt fragt er freundlich nach, wann der Krankentransportwagen denn ungefähr komme.

Leitstellendisponent Ralf Rusche, einer der 34 Mitarbeiter der Kreisleitstelle für Feuerwehr und Rettungsdienst in Borken, legt die Stirn in Falten, im Südkreis ist gerade eine Menge los, fast alle verfügbaren Krankentransport (KTW)- und Rettungswagen (RTW) sind im Einsatz.

Aufgrund der starken Schmerzen der Patientin entscheidet er dann doch einen Rettungswagen zu alarmieren. „In ein paar Minuten kommt der Rettungsdienst“, beruhigt er den Mann am Telefon.

Seit Februar 2022 koordinieren die Mitarbeitenden die eingehenden Notrufe aus einem modernen Gebäude neben dem Kreishaus. Der Legdener Ralf Rusche ermöglichte der Redaktion einen Blick hinter die Kulissen der Kreisleitstelle.

Keine Rettungswagen

Zu Stoßzeiten oder wenn ein Unfall mit mehreren Verletzten passiert sei, könne es durchaus passieren, dass es punktuell eng wird mit der Verfügbarkeit von Rettungswagen. Thomas Kock, der Lagedienstführer bei der Leitstelle ist, behält die Situation im Blick.

„Wenn jetzt noch weitere Einsätze einlaufen, dann aktivieren wir einen Rettungswagen über den Grundschutz“, erklärt er. Dann werde eine Hilfsorganisation, beispielsweise das Deutsche Rote Kreuz, der Malteser Hilfsdienst oder die Johanniter Unfallhilfe alarmiert. Deren Ehrenamtlichen besetzen dann einen Rettungswagen, bis sich die Situation wieder entspannt.

Bei Ralf Rusche klingelt das Telefon erneut. Am Telefon eine Intensivkrankenschwester, ein Patient muss zur Dialyse nach Wesel gebracht werden. Eigentlich ein unspektakulärer Fall für einen Krankentransport, weiß Rusche, doch in dem kurzen Austausch mit der Fachkraft hat er erkannt, dass der Allgemeinzustand des Patienten dafür nicht stabil genug ist.

Einer der vier Rettungswagen mit Telenotarzt-Schnittstelle im Kreisgebiet kommt zum Einsatz. Die Besatzung dieses RTWs kontaktiert bei Bedarf einen erfahrenen Telenotarzt in Aachen, der den Transport übers Telefon begleitet. Zudem hat dieser Zugriff auf alle Geräte, die den Zustand des Patienten überwachen.

Dadurch kann er sich, auch aus der Ferne, ein Bild von der Verfassung des Erkrankten machen und die RTW-Besatzung zum Beispiel bei der Gabe von Medikamenten unterstützen.

„Das hat für uns im Kreis Borken den entscheidenden Vorteil, dass keiner unserer fünf Notärzte, die hier rund um die Uhr im Einsatz sind, über einen langen Zeitraum gebunden ist“, erläutert Rusche. Seit drei Jahren wird dieses erfolgreiche Konzept auch im Kreis Borken eingesetzt.

Zeitgleich hat die Kollegin am Nebentisch einen Notruf entgegengenommen, aus dem ein Einsatz für die Feuerwehr hervorging. Ein Mann hat einen Ölfilm auf einem Gewässer entdeckt. Normalerweise wird den Mitarbeitenden der Leitstelle nach wenigen Sekunden der Standort jedes Anrufers auf einer digitalen Karte angezeigt. In diesem Fall ist das Funknetz an der Einsatzstelle scheinbar nicht stabil genug.

Standortsuche übers Telefon

Die Ahauserin Lisa Torka, eine der drei Frauen im Leitstellen-Team, befragt den Mann ganz genau nach seinem Standort, grenzt den Ort des Geschehens so ein und alarmiert die zuständige Feuerwehr. Nach wenigen Minuten vor Ort ist klar, da ist Diesel auf dem Wasser. Die Feuerwehr errichtet eine Ölsperre und nimmt den Kraftstoff mit einem speziellen Mittel auf.

Ob der Verursacher ermittelt werden kann, bleibt unklar. Unmittelbar nach dem Telefonat mit dem Meldenden hat Lisa Torka auch die Polizei über den Einsatz informiert. Das ist so üblich, läuft aber auch in umgekehrte Richtung. Manche Einsätze werden der Leitstelle von der Polizei gemeldet.

Lisa Torka
Lisa Torka ist einer der drei Frauen unter den Mitarbeitern der Kreisleitstelle. Gemeinsam mit dem Legdener Ralf Rusche gab sie Einblicke in den Arbeitsalltag der Kreisleitstelle. © Schulze Beikel

Bei Ralf Rusche klingelt wieder das Telefon. Bis zu 600 Anrufe erreichen die Kreisleitstelle am Tag. Daraus entstehen täglich über 200 Einsätze für die sieben Rettungswachen und 17 Feuerwehren im Kreis. Das Verhältnis liegt bei 94 Rettungsdienstlichen Einsätzen zu 6 Feuerwehreinsätzen. „Die Zahl der Krankentransporte und Rettungsdiensteinsätze übersteigt die Einsätze der Feuerwehren bei weitem“, erklärt Frank Hörst, der Ausbildungsleiter der Leitstelle.

In diesem Fall handelte es sich um einen der zahlreichen „Hosentaschenanrufe“, die täglich von den Männern und Frauen der Leitstelle entgegengenommen werden. Das können schon mal 40 bis 50 am Tag sein, bestätigt Rusche.

Enorm zurückgegangen sind glücklicherweise die missbräuchlichen Notrufe, bei denen die Leitstellenmitarbeiter beschimpft werden oder Leitungen durch Endlosanrufe blockiert werden, erklärt der Legdener erleichtert.

Strukturierte Notrufabfrage

Und schon wieder blinkt es rot auf Rusches Display. Ganze zwei Meter Bildschirme stehen auf seinem Schreibtisch, unzählige Fenster zeigen Karten, Übersichtstabellen, Bereitschaftslisten mit Ansprechpartnern und Telefonnummern, den Geodatenatlas und Masken mit Eingabefeldern. Hierüber koordiniert er nicht nur die Alarmierungen. Seit einigen Jahren erfolgt die Kommunikation mit den Anrufern über die sogenannte strukturierte Notrufabfrage.

Der Disponent, wie die Mitarbeiter in der Leitstelle auch heißen, stellt softwaregestützt gezielte Fragen. Begonnen wird immer mit dem Einsatzort, dann fällt die Entscheidung, ob es sich um einen Feuerwehr- oder Rettungsdiensteinsatz handelt. Nach noch einigen weiteren Fragen schlägt das System ein Einsatzstichwort vor. „Die Entscheidung, mit welchem Schlagwort die Einsatzkräfte alarmiert werden, trifft aber der Disponent“, stellt Rusche klar.

Stephan Kruthoff
Stephan Kruthoff ist Leiter der Kreisleitstelle. Zukünftig wird auch in der Kreisleitstelle künstliche Intelligenz eingesetzt, verrät er im Gespräch. © Schulze Beikel

Feuer, Unfall oder Krankheit

„Das erfordert eine Menge Erfahrung und Fingerspitzengefühl“, betont Thomas Kock. Anhand der Antworten des Anrufers werde entschieden, welche Hilfe auf den Weg geschickt würde. Hinter der entsprechenden Alarmierung sind dann alle weiteren Schritte hinterlegt.

Der Computer schickt ein Fax mit allen nötigen Informationen in die Gerätehäuser oder Rettungswachen. Die Meldeempfänger der Einsatzkräfte, egal ob hauptamtlich oder freiwillig, lösen aus. Menschen begeben sich mit Fahrzeugen, die mit dem benötigten Equipment beladen sind, auf den Weg zu Hilfesuchenden.

Etwa viermal am Tag ist aber schnellere Hilfe nötig. Immer dann, wenn ein Anrufer schildert, er sei bei einer bewusstlosen Person, bei der keine Atmung festgestellt werden kann. Dann unterstützen die Leitstellenmitarbeitenden den Anrufer übers Telefon bei der Reanimation, wie die Maßnahmen zur Wiederbelebung genannt werden. Minuten entscheiden dann über Leben oder Tod, weiß Ralf Rusche.

Wir sprechen die Anrufer dann sehr direkt an und geben kurze, klare Anweisungen. Gleichzeitig wird außerdem ein sogenannter Corhelper über eine spezielle APP alarmiert. Das sind qualifizierte Ersthelfer, die sich in der Nähe des Einsatzortes aufhalten. „Die sind schneller vor Ort als Rettungswagen und Notarzt und können direkt professionelle Hilfe leisten erklärt“, Ralf Rusche.

Was so nüchtern klingt, lässt die Mitarbeiter der Leitstelle selbstverständlich nicht kalt. „Nach so einem Telefonat, bei dem der Disponent manchmal die gesamte Bandbreite an Emotionen miterlebt, die Betroffene dann empfinden, brauchen auch wir eine Pause“, bestätigt Frank Hörst.

KI im Leitstellenalltag

Zukünftig wird auch künstliche Intelligenz eine Rolle im Arbeitsalltag der Kreisleitstelle spielen, berichtet der Leiter der Einsatzzentrale, Stephan Kruthoff. Es gebe bereits ein Programm auf dem Markt, das dabei helfe, die Rettungsmittel optimal im Kriegsgebiet einzusetzen. Dieses befindet sich zurzeit in einer Erprobungs- und Projektphase, erklärt er anhand einer Karte auf seinem Bildschirm.

Zudem sei ein Projekt geplant, bei dem ein Programm zur Übersetzung unterschiedlicher Sprachen getestet werde. „Gerade in einer Notsituation ist mangelndes Verständnis aufgrund von Sprachbarrieren ein echtes Problem“, beteuerte Kruthoff.

Ralf Rusche und seine Kollegin haben nach vier Stunden am Disponenten-Pult Pause. Etwa alle vier Stunden tauschen die diensthabenden Mitarbeiter je nach Möglichkeit vom Arbeits- in den Ruhemodus. „Eine Schicht geht über 24 Stunden. Die kann man nicht am Stück durcharbeiten“, so Rusche abschließend.

Diesen Artikel haben wir am 30. Mai 2024 veröffentlicht.