Es ist eine unscheinbare Kladde, versteckt unter den Habseligkeiten ihrer Mutter Maria Potrzeba (Kösters), auf die Ingrid Tricot im Keller stößt und völlig überrascht und bewegt ist. Es ist nämlich so etwas wie ein Vermächtnis der Mutter an ihre Töchter und trägt die Überschrift „Mein Leben“. Ein Leben, das sie darin als „kalt und hart“ zusammenfasst. Von Geburt an.
Als sie nämlich am 1. April im eisigen Winter 1927 im Kotten der Familie als eines von 11 Kindern zur Welt kommt, habe die Mutter ständig heiße Backsteine in die Wiege legen müssen, „damit ich nicht erfror“. Und: „Diese Kälte sollte wohl Symbol für mein Leben sein.“
Es sind nur wenige knappe Daten auf dem ersten Stolperstein, der Anfang Dezember in Asbeck verlegt wurde, die doch die ganze Schrecklichkeit deutlich machen, die Maria Kösters in ihrem Heimatdorf erleben musste. Während der Nazizeit und auch danach: verhaftet 29.11.1941 verbotener Umgang; 1943 KZ Uckermarck, entlassen 1944; nach 1945 weiterhin diffamiert.

Mit zehn Jahren ist Maria Kösters Halbwaise. Die Mutter stirbt nach schwerer Krankheit, der Vater nur wenige Monate später nach einem Unfall mit der Dreschmaschine. Vormund wird der Nachbar und Großbauer Brinkmann, NSDAP-Ortsgruppenleiter. „Nun war meine schöne Kindheit zu Ende, für mich gab es nur Arbeit und nebenbei die Schule.“ Sie hütet Kühe, trägt Zeitungen aus und schläft häufig vor Erschöpfung ein. Oft weint sie nachts, weil sie sich einsam fühlt. Es sollte aber noch schlimmer kommen. Sie notiert: „...denn nun begann mein richtiger Dornenweg. Der Krieg brach aus.“
Allerdings spricht sie auch von Lichtblicken. Dem polnischen Zwangsarbeiter Florian Spionczka zum Beispiel, den ihr Bruder Alois mitbringt: „Er war lustig und hat uns auf dem Hof auch geholfen.“ Er, aber auch der örtliche Vikar, sehen die Begabung des Mädchens und raten ihm sogar, die „Höhere Töchterschule“ zu besuchen. Der Vormund lehnt ab.
Verhängnisvolle Freundschaft
Nach der Schulentlassung will Maria Schneiderin werden, kann das aber nicht realisieren, da Bruder Bernhard, der den Hof bewirtschaftet, eingezogen wird. Er geht, nicht ohne seine Schwester vor Hitler zu warnen. „Durch ihn käme großes Unglück auf uns zu“, schreibt sie. Zwischen ihr und Florian entwickelt sich währenddessen „eine innige Freundschaft“. Eine verhängnisvolle Freundschaft, wie sich später herausstellen wird. Ein Nachbar verrät die Freunde. Maria wird ein sexuelles Verhältnis mit dem „Feind“ und damit ein Verstoß gegen die Rassengesetze unterstellt. In der NS-Zeit ein Verbrechen.
In ihrem Testament liest sich das so: „Für Florian bedeutete es den Tod.“ Und für den zweiten polnischen Zwangsarbeiter Josef Goryl (24), der bald ebenfalls zum Freundeskreis gehört, ebenso. Die beiden werden am 28. August 1942 im Asbecker Brook gehängt. Eine Gemeindeschwester, die erfahren hatte, dass auch Maria von der Gestapo abgeholt werden soll, verhindert das, und Maria kann zuerst zu den Nonnen von Haus Widey flüchten. Ein Jahr dauert der Aufschub, dann wird sie von der Gestapo abgeholt und zunächst nach Paderborn ins Gefängnis gebracht. Unter Druck wird ein „Geständnis“ erpresst. Nie habe sie erfahren, was sie eigentlich unterschrieben habe, sagt sie später.
Die Schrecken des KZ
Von dort ist das KZ Ravensbrück (Jugend-KZ Uckermarck) das nächste Ziel. Das kann auch der Beamte, der sie so gerne als Kindermädchen eingestellt hätte, nicht verhindern. „Die zwei Jahre KZ waren grauenvoll“, teilt sie ihren Töchtern mit. „Es war die Hölle und ich war kaum 16 Jahre und eine der jüngsten dort.“ Einige Textstellen lassen das Grauen, das sie erlebt hat, erahnen: „Ich habe miterleben müssen, wie 50 Kinder fröhlich gesungen haben und am anderen Tag waren sie verstummt. Tod auf Befehl Hitlers und Himmlers.“
Als sie 1944 in die „Jugendheimstätte Bärensprung“ entlassen wird, muss sie vorab schwören, dass sie niemandem davon erzähle, was sich im Lager ereignet habe. Ansonsten drohe ihr das Strafkommando. Nur eine Lehrerin in der Vorschule von Bärensprung, zu der Maria dann kommt, erfährt durch Zufall von den Gräueltaten, die Maria erlebt hat. Als diese mit hohem Fieber redet... Gleichwohl stellt sie sich schützend über Maria rät zu einer Ausbildung zur Kinderpflegerin und bringt sie nach Berlin. Eine schöne Zeit habe sie dort erlebt. Mit gemeinsamen Konzert- und Opernbesuchen. Dann fallen die Bomben.

In Marias „Testament“ geht es dann erst nach dem Krieg weiter. Zurück in Asbeck habe sie sich auf dem Amt melden und berichten sollen, ob das alles seine Richtigkeit hatte. Aber: „All die Nazis saßen noch da, da hatte ich keine Kraft etwas zu sagen. Wer sollte mir auch beistehen?“ Und nicht nur das: Die Dorfgemeinschaft grenzt sie aus. Nach wie vor ist sie das „Polenliebchen“, wird beschimpft und missachtet. Selbst der Pfarrer lehnt Hilfe ab. Wieder mal flüchtet sie zu den Schwestern von Haus Widey, die auch die Vormundschaft übernehmen.
Und dann lernt sie ihren späteren Mann kennen. Zynismus der Geschichte: Er hat polnische Wurzeln. Aus dem ursprünglichen Vornamen Czeslaw wird 1941 ganz offiziell ein deutscher Theodor. 1952 wird geheiratet. Lebensmittelpunkt des Ehepaares und ihrer drei Kinder wird Herne. In ihre Heimat Asbeck aber kehrt sie nur noch zu formellen Anlässen zurück.
Die Ausgrenzung geht weiter
Jahrzehnte lang hat Maria Potrzeba über all das geschwiegen. Niemand aus der weit verzweigten Familie Kösters hat eine Ahnung davon, was sie erdulden musste. Eine lebenslängliche Last, wie inzwischen bekannt ist.
Seitdem aber das Mäntelchen des Schweigens gelüftet wurde, beginnt für Tochter Ingrid und Enkelin Desirée Wardenbach (43) die Spurensuche: „Da haben wir angefangen zu graben und sind tief eingestiegen.“ Was sie dabei entdecken, macht sie nach wie vor fassungslos. Selbst Ida (10) findet die Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter sehr verstörend.
Dass Maria ihr Geheimnis aber überhaupt preisgibt, ist der Historikerin Dr. Gisela Schwarze aus Münster zu verdanken, die zur Verfolgung der „ganz normalen Frauen“ im Dritten Reich forscht. Großen Anteil an der Aufarbeitung hat auch die damalige Asbecker Heimatvereinsvorsitzende Maria Pier-Bohne. Inzwischen ist nicht nur das Schwarze-Buch zum Thema „Es war wie Hexenjagd“ erschienen und in Asbeck vorstellt worden, sondern auch ein Dokumentarfilm zur „Ausgrenzung“, in dem Maria mit ihren Erinnerungen ausführlich zu Wort kommt, herausgekommen und gezeigt worden.

Enkelin Desiree, die zu der Zeit bei ihrer Oma wohnt, erinnert sich daran, wie sich diese zuerst weigert, von „damals“ zu erzählen und es dann doch tut. Allerdings mit heftigen Folgen. Mit Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung. „Wie oft hat sie mich nachts aufgeweckt, weil sie Panik hatte und sich bedroht fühlte, weil angeblich einer aus Asbeck durchs Fenster schaute...“
Ganz real sind aber die Bedrohungen, denen sie schon wieder ausgesetzt war. Nach dem Erscheinen des Schwarze-Buches habe es wieder angefangen, erzählt die Enkelin. Von nächtlichen Stöhn-Anrufen bis hin zu Einschüchterungsversuchen und der deutlichen Aufforderung, doch die alten Geschichten endlich ruhen zu lassen.
Das wollen aber auch die Nachkommen auf keinen Fall, sehen es sogar als Auftrag an, weiter an die Asbecker und die Gemeinde Legden zu appellieren, Maria Potrzeba ganz offiziell wieder ihre Heimat zurückzugeben, sie zu rehabilitieren und ein deutliches Zeichen zu setzen. Neben den Schrecken der Nazizeit sei der Verlust der Heimat nämlich ihre größte Verwundung gewesen. 2017 stirbt Maria Potrzeba und kann nicht einmal die Verlegung des Stolpersteins und damit die Sichtbarmachung ihrer Lebensgeschichte erleben.

Diesen Artikel haben wir ursprünglich am 27. Dezember 2024 veröffentlicht.