Der alte Legdener Bahnhof ist schon lange Wohnhaus und ein ganz besonderes Zuhause: für den Jugend- und Heim-Pädagogen Dirk Räckers, seine drei Kinder und zwei jugendliche Schützlinge. In der bunten Welt der historischen Haltestelle versucht er, allen WG-Mitgliedern Normalität, so etwas wie Familienleben, zu bieten. Besonders denen, die hier Neuland betreten.
Dabei darf das scheinbar ungeordnete Außengelände des Denkmals nicht darüber hinwegtäuschen, dass überall klare Regeln herrschen. „Die geben Orientierung und Sicherheit“, ist Dirk Räckers überzeugt. Allerdings ist das nur eines der Bahnhof-Basics. Das andere: Beschäftigung. Ob musikalische Aktivitäten, sportliche oder kreative, der Bahnhof ist voll von verschiedenen Angeboten. Aktuell liegen auf der Rampe Nistkästen, die zusammengezimmert werden wollen.

Plötzlich Betroffener
Von einer immer nur heilen Welt kann dennoch keine Rede sein. Ganz wie im richtigen Leben gibt es gute und schlechte Zeiten. In diesem Jahr muss Dirk Räckers sogar noch eine ganz neue Erfahrung machen: In den Osterferien dringen zuerst Unbekannte ins Haus ein, richten drinnen und auch draußen erheblichen Schaden an. Die Täter, die schnell ermittelt werden können: Kinder und Jugendliche aus der Umgebung.
Den grundsätzlichen Vorgang in einer Legdener Örtlichkeit bestätigt auch Polizei-Pressesprecher Thorsten Ohm, hält sich aber aus Datenschutzgründen mit Details zurück. Auch Hausherr Räckers möchte über den konkreten Vorfall nicht intensiver reden. Dass sich die „Akteure“ für ihr Handeln verantworten müssen, steht für ihn aber außer Frage, gleichwohl betrachtet er die Problematik als sehr viel komplexer: „Ich sehe mich da als Brückenbauer.“ Womit wir zu den schlimmen Ereignissen in Ahaus kommen.
„Der größte Impuls, Straftaten zu begehen, ist auch bei Kindern und Jugendlichen Langeweile“, sagt Pädagoge Räckers. Übrigens nicht die einzige Einschätzung, die er mit Dr. Ewald Brockhoff, Psychiater und Gerichtsgutachter in Münster, teilt. Und auch die Ahauser MPU-Beraterin Iris Löbbering macht ähnliche Erfahrungen. Ein Beispiel: „Jugendliche, die sich ohne Führerschein ans Steuer setzen.“
Alle drei erleben in ihrem beruflichen Tun eine Welt, eine Gesellschaft, die unter Druck steht. Eine Welt, in der die sogenannten sozialen Medien Realität vorgaukeln, in der sich die ganz Jungen zwischen Überforderung ihres Umfelds und eigener Unterforderung bewegen. Dirk Räckers: „Alle sind zurzeit am kämpfen.“
In einer solchen Situation scheint eine Gruppe Schutz, Sicherheit und Anerkennung zu bieten, ideal zu sein für die Aufbesserung des eigenen Egos. Die Konsequenz: Gruppenzwang drinnen, Respekt- und Rücksichtslosigkeit nach außen. Besonders fatal, wenn die Gruppendynamik in die falsche Richtung führt, Straftaten begangen werden, die sogar der Imagepflege dienen.
„Nachspiel“ dauert zu lange
Bedeutsam ist für die Experten aber auch das „Nachspiel“ nach einer Tat. Räckers und Brockhoff sprechen von Jugendlichen und selbst Kindern, die oft den Bezug zum eigenen Handeln verloren haben, sich gar keine Gedanken über die Folgen für die Opfer machen. Mal abgesehen davon, dass die Strafmündigkeit erst mit 14 beginnt. „Kaum jemandem merkt man an, dass er betroffen ist, wenn er aus dem Gericht kommt, zeigt meist sogar ein Grinsen“, hat Dirk Räckers festgestellt. Warum das so ist? „Wenn ein Jugendlicher Mist gebaut hat, dauert es oft Monate, bis konkrete Maßnahmen folgen.“
Viel zu lange, meint Räckers, „denn dann ist die Tat längst aus dem Kopf raus.“ Einen Königsweg hat er zwar nicht, wohl aber die Idee, mit dem Anfang zu starten, mit besagter Langeweile: „Dabei kann Langeweile so viel Kreativität bewirken.“ Wenn sie denn positiv genutzt werde. Heißt: „Den jungen Menschen zwar klare Strukturen zu vermitteln, aber auch Angebote zu machen, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen.“
Dirk Räckers und auch Dr. Brockhoff, möchten außerdem die Strafmündigkeit von 14 auf 12 Jahre senken, aber: „Das heißt natürlich nicht, dass schon Kinder in den Knast sollen.“ Gleichwohl müssten sie mit echten und zeitnahen Konsequenzen für ihr Tun rechnen. Für den Legdener ist Bestrafung aber nicht das Mittel der Wahl: „Dadurch wird ja nichts gelernt, gebraucht werden Konzepte, um straffällige Jugendliche an Verantwortung, Respekt und Werte heranzuführen.“
Seine Gretchenfrage: „Wie schaffen wir es, Bildung interessant zu vermitteln.“ Er plädiert für mehr Outdoor-Aktivitäten und sogar einen gewissen Mut zum Risiko: „Jugendliche müssen sich auch austesten und ihre Schutzzone verlassen dürfen – gegen den allgemeinen Trend zur Überbehütung.“ Allerdings, auch das betont er, stelle das auch eine große Herausforderung für die Betreuer dar: „Wir stehen immer auch in der juristischen Verantwortung.“