Schmucke Fachwerk-Häuser sind es, die rund um den Hof Schulze Hauling liegen. Zum Teil schon seit Jahrhunderten: vier Kotten und ein Melkerhaus. Inzwischen kernsaniert, modernisiert. Die Bewohner sind heute Menschen, die sich den Luxus des Landlebens gönnen. Von Luxus aber kann in früheren Zeiten kaum die Rede gewesen sein. Weder bei den Gebäuden noch bei den Bewohnern. Im Gegenteil! Die Rede ist vom Leben in den Kotten, wie sie im Münsterland heißen, den Köttern und ihren Familien. Und das war für alle wahrlich kein Zuckerschlecken.
Das haben auch Franz Deggerich und Hermann Büter erlebt, die nicht nur hier geboren wurden, sondern auch Kindheit und Jugend in der Nachbarschaft des Schulzenhofes verbringen. Zusammen mit dem Hausherrn Gerd Schulze Hauling erinnern sie sich an das große „Familien-Treffen“ Ende Juni auf Einladung von Franz Deggerich und an alte Zeiten. An Zeiten, die so ganz anders waren als die heutigen. Sie erinnern sich an hart arbeitende Eltern, an die Selbstverständlichkeit von klein auf mit anzupacken, an strenge Erziehung und Regeln, aber auch an Spiel und Spaß und so manches Abenteuer. Stellvertretend für alle Kötter-Nachkommen erzählen sie ihre Geschichte.


Bei der Begegnung der drei Männer, alle Anfang der 1950-er Jahre geboren, macht sogar der Bericht eines geheimnisvollen Kriminalfalls die Runde. Nein, es ist keine Sozial-Romantik, mit der die Drei von ihrem gemeinsamen Lebensabschnitt berichten, kein verklärter Blick auf die gute, alte Zeit. Aber auf eine prägende Phase ihres Lebens. Wer aber genau sind diese Kötter, die auf dem Hof Schulze Hauling über Jahrhunderte lebten und arbeiteten?

Kötter (außerhalb des Münsterlands heißen sie auch Heuerlinge) werden über vier Jahrhunderte bis etwa in die 1960-er Jahre wenig beachtet, sind aber prägend für die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft. Oft sind es Landpächter eines Grundherrn, der auch die Gebäude zur Verfügung stellt. Bei Schulze Hauling zum Beispiel konnten die Kötter Acker und Grünland pachten, selbst Getreide und Gemüse anbauen, Vieh halten. Das aber nicht nur gegen ein Entgelt, sondern vor allem gegen aktive Mitarbeit.
„Das Kötterwesen war lange Zeit ein recht sensibles Thema“, sagt Gerd Schulze Hauling und meint damit wohl das Image, das den Köttern anhaftete. Das hat in erster Linie etwas mit ihren harten Lebens- und Arbeitsbedingungen zu tun. Von Wohlstand kann jedenfalls keine Rede sein. Die ärmlichen Häuser bieten auf kleinstem Raum oft Platz für viele Personen. Bei Franz Deggerich für die Eltern und acht Kinder. Eine Heizung gibt es nicht, fließendes Wasser oft auch nicht. „Die Häuser waren nass und kalt“, erinnert er sich zusammen mit Hermann Büter.
Zahlreiche Herausforderungen
Auch der Schulweg - etliche Kilometer bei Wind und Wetter bis ins Dorf - sind eine echte Herausforderung. Oft sei man durchnässt und durchgefroren am Ziel angekommen. Und auch der Unterricht ist nichts für Zartbesaitete, harte Strafen sind nicht nur die Ausnahme. Einen kleinen Lichtblick beschreibt Franz Deggerich aber auch: „Wir hatten zuhause immer Kuchen, den konnte ich dann als Pausenbrot gegen frische Brötchen der Dorfkinder eintauschen.“
Natürlich ist für alle Kötter-Kinder Arbeit kein Fremdwort. Wo immer Bedarf ist, helfen sie mit. Ob der Mutter beim Einmachen von Gemüse oder dem Vater bei den Kühen, Kälbern und Schweinen. Franz Deggerichs Vater Heinrich betätigt sich auch als Schreiner, Seiler und Besenbinder, fertigt aus alten Strohbändern Seile, fertigt das Zubehör für Pferdegeschirre und Zaumzeug. Sohn Franz hilft mit: „Ich musste die Seilmaschine drehen.“ Wie die anderen Kinder auch ist er beim Vereinzeln der Rüben ebenso wie beim Absuchen der Kartoffeln im Einsatz.

Kleine Privilegien
Ähnlich beschreibt auch Hermann Büter seine Kinder- und Jugendzeit, auch wenn Vater Clemens, der Melker, schon über einige Privilegien verfügt. Das Haus ist im Geburtsjahr von Sohn Hermann (1955) gerade erst gebaut und ganz wichtig: Der Melker ist im Unterschied zu den Köttern ein Festangestellter. Das Leben des jungen Hermann bewegt sich rund um die Rot-Bunten, die 24 Milchkühe, die alle einen Namen haben. Gemolken wird zuerst mit der Hand, später dann maschinell. Hermann Büter: „Fleisch kommt nicht jeden Tag auf den Teller.“ An echten Mangel kann sich aber auch Franz Deggerich nicht erinnern: „Bei uns gab es immer selbst gebackenes Brot, Kuchen, Obst und Gemüse.“ Für Fleisch und Wurst ist ja dank der eigenen Tiere gesorgt.
Zur ganzen Geschichte gehört aber auch, dass sie ihre frühen Jahre nicht nur mit zahlreichen Einschränkungen erleben, sondern auch als unbeschwerte Zeit mit vielen Freiheiten: „Unser Abenteuerspielplatz lag vor der Tür.“ Dort gibt es auch zum Schulzen-Sohn keine Berührungsängste. Gerd Schulze Hauling: „Wir waren ja alle etwa gleichaltrig.“ Es spielt auch keine Rolle, wenn ein Abenteuer mal schiefgeht. Wie seinerzeit, als man mit dem Floß, das Franz Deggerich mit acht Bundeswehrkanistern gebaut hatte, in der „Wittekuhl“ kentert …

Von einem großen Abenteuer, einem echten Krimi, haben die Drei erst als Erwachsene erfahren, auch bei der jetzigen Begegnung ist es wieder ein Thema: Es ist die Geschichte von einem Raubüberfall, den Gerd Schulze Haulings Großonkel 1932 erlebt hat. Der habe sich den zwei maskierten Männern, die mit vorgehaltener Waffe Bares und Wertgegenstände fordern, erfolgreich zur Wehr gesetzt. Mit dem Schürhaken des Herdfeuers schlägt er einem der Räuber die Waffe aus der Hand, wodurch sich ein Schuss löst und den Hofherrn leicht verletzt.
Die Täter werden später geschnappt, weil der Onkel einen von ihnen an der Stimme erkennt. Die Spur führt in eines der Kötterhäuser... Dass sein Nachfahre ein heutiger Promi ist, ist bei Schulze Haulings ein streng gehütetes Geheimnis. Feuerhaken und Einschusslöcher gibt es aber noch.
Die Erinnerung bleibt
Mit alldem haben Gerd Schulze Hauling, Franz Deggerich und Hermann Büter längst abgeschlossen. Franz Deggerich, ehemaliger Angestellter der Gemeinde und Hermann Büter, ehemals Ingenieur bei Mercedes, haben nicht nur die alten Kötterhäuser längst verlassen, sondern sind inzwischen Rentner. Gerd Schulze Hauling ist weiter als Land- und Forstwirt aktiv. Und doch ist die alte Kötter-Zeit auch immer wieder Thema bei ihren Begegnungen.