Pogromnacht in Herbern Nachfahren der Samsons leben heute in Amerika

Pogromnacht in Herbern: Nachfahren der Samsons leben heute in Amerika
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Da, wo 1938 die jüdische Familie Samson aus ihrem eigenen Haus vertrieben und auf die schlimmste Reise ihres Lebens geschickt werden sollte, ist heute ein Parkplatz. Die vier in den Boden gelassenen Plaketten erinnern an der Ecke Merschstraße/Bernhardstraße an das Schicksal der Herberner Familie.

Die Handwerksfirma Samson aus Herbern war Anfang des 20. Jahrhunderts in der Region sehr bekannt. „Man lieferte überall hin: Werne, Walstedde, Lüdinghausen, Drensteinfurt oder Senden waren tägliche Lieferadressen“, zitiert Egon Zimmermann in seiner Schrift „Kriegsereignisse und deren Auswirkungen auf Herbern“ einen der letzten Lehrlinge des Herberner Betriebes. Denn am 9. November 1938 suchten vermutlich Nazis aus Werne und Herbern das Unternehmen heim und zerschlugen die Scheiben des Wohnhauses.

Links neben dem Wohnhaus befand sich die ehemalige Werkstatt. Niemals, so schreibt es Zimmermann, habe Vater Ernst Samson damit gerechnet, von den Nazis verhaftet zu werden - auch, weil er im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz Ersten Grades ausgezeichnet worden war. Doch genau so sollte es kommen: Die Nationalsozialisten schlugen auf Kaufmann Ernst Samson, seine Frau Emma und die Töchter Margret und Gerda Samson ein. Einige der NS-Verbrecher seien nach Kriegsende gefasst und verurteilt worden, schreibt Zimmermann.

Vater Ernst Samson kam mit der Taschenlampe in die Werkstatt

„Am Morgen (...) war alles anders, nichts war wie gewohnt“, zitiert Zimmermann den ehemaligen Lehrling, der morgens zu Schichtbeginn in die Werkstatt kam und dem Vater Ernst Samson im Dunkeln mit einer Taschenlampe entgegenkam. Die Fenster der Tankstelle an der Straße waren eingeschlagen. „Im Werkstattbüro war alles wie mit einem dicken Hammer eingeschlagen. Die Möbel waren umgeworfen und die ganzen Geschäftspapiere waren zerrissen und die Lampen aus der Decke gerissen.“ Auch im Schlafzimmer im Wohnhaus hatte „die Meute“ gewütet.

„Die Betten waren aufgeschlitzt und die Bettfedern flogen auf der ganzen oberen Etage herum. Die Frau Samson und ihre Töchter wurden unter Schlägen aus dem Haus getrieben. Sie versteckten sich auf der Wiese und dem Apfelhof [...]“ Vater Ernst wurde in Schutzhaft genommen, sein Vermögen von der Gestapo beschlagnahmt. Zunächst arbeitete der Familienvater noch als Schlosser in Hagen und beantragte die Ausreise nach Bolivien, die aber aus fadenscheinigen Gründen abgewiesen worden sei, zitiert Egon Zimmermann den Herberner Josef Farwick.

Auf einem Passagierdokument ist Gerda Samson bei der Überfahrt nach New York aus Bremen aufgeführt.
Auf einem Passagierdokument ist Gerda Samson bei der Überfahrt nach New York aus Bremen aufgeführt. © Jewish Federation

Am 18. Oktober 1941 dann wurden die Juden aus dem Münsterland „evakuiert“: Die Samsons aus Herbern wurden ins Konzentrationslager nach Riga gebracht, später dann ins Lager Stutthoff in der Danziger Bucht. Hier, so die Vermutung, starb Ernst Samson. Offiziell gilt er als verschollen. Emma kehrte nach Kriegsende mit ihren Töchtern nach Herbern zurück, verstarb aber auf der Reise in Berlin.

Die Töchter Gerda und Margret kamen kurzzeitig zurück nach Herbern, „um die Wiedergutmachung in die Wege zu leiten“, so Farwick. Kurz darauf wanderten die beiden aber nach Amerika aus. Im Internet führen Spuren der Familie nach Philadelphia in den USA.

Zeitungsartikel aus den USA bringt Licht in Familiengeschichte

Eine Anfrage bei der Jewish Federation of Greater Philadelphia bringt Klarheit, was dann mit der Familie geschehen ist: In Passagierunterlagen der SS Marine Perch, die am 12. April 1947 aus Bremen nach New York gefahren ist, ist Gerda Samson aufgeführt. Die damals noch unverheiratete Gerda zog zunächst nach Chicago. In einem weiteren Dokument aus dem Jahr 1951 dann steht, dass nun genannt Gerda Eleanor Bauer Hausfrau und Sekretärin und verheiratet ist mit Albert Bauer - die beiden hatten am 28. Juni 1950 geheiratet.

Ihre Kinder Ellen, Marian und Ernest Bauer wurden zwischen 1952 und 1959 in Philadelphia geboren. Marian und Ellen wohnen heute noch im Großraum Philadelphia. Sprechen wollten die Geschwister mit uns jedoch nicht. Marylin Golden von der Federation hatte uns bei der Suche nach den beiden unermüdlich unterstützt und die beiden erreicht, jedoch wolle Marian Bauer nicht, dass jemand von dem Elend [misery] ihrer Familie profitiere. In einem Artikel vom 31. Januar 2016 allerdings hatte Marian Bauer mit einem Journalisten der Burlington County Times in Westampton New Jersey gesprochen.

Menschen legen Blumen an der jüdischen Stele in Herbern nieder.
Die jüdischen Stele in Herbern erinnert an die schrecklichen Ereignis zur Zeit des Nationalsozialismus. © Udo Kerkmann (A)

Darin beschreibt der Journalist Phil Gianficaro, wie Marian Bauer ihm erzählte, wie ihre Mutter Gerda im KZ in Riga die Nazis dabei beobachtet hatte, wie sie einen Gefangenen in Riga erhängten. Weil er eine Scheibe Brot gestohlen hatte. Darin erzählt Marian: „Die Nazis transportierten die gesamte Familie meiner Mutter aus Deutschland zu dem Lager, und sie hat niemals erfahren, was mit ihrem Vater geschehen ist. Nach dem Krieg hatte meine Mutter einen Nervenzusammenbruch wegen allem, was geschehen war. Sie ist einfach durchgedreht [she just lost it].“

Marian Bauer hatte sich bei Gianficaro gemeldet, weil der die Geschichte eines ähnlichen Schicksals aufgeschrieben hatte. Die Geschichte der damals 88-jährigen Claire Goldstein zu lesen, die damals ebenfalls das KZ in Riga überlebt hatte, sei furchterregend bekannt gewesen. „Meine Mutter hat sogar in ihren Memoiren über das geschrieben, was in Riga geschehen ist, aber ich bin nicht in der Lage gewesen, es zu lesen. Ich kann es nicht lesen. Mir würde schlecht werden.“ Gerne würde sie wissen, ob Claire Goldstein ihre Mutter gekannt habe. Ob das aber tatsächlich der Fall war, bleibt offen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien zuerst am 9. November 2021 auf unserer Homepage.

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