Eltern und Bruder von Ali sterben bei Erdbeben in Türkei Herberner Familie nimmt Geschwister auf

Eltern und Bruder von Ali sterben bei Erdbeben: Herberner Familie hilft
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„Man kann das nur verstehen, wenn man fließend Bürokratie spricht“. Dieses Zitat von Birgit Homann (58) deckt so ziemlich das Leben und Bemühen der Familie der vergangenen sieben Jahre ab, die syrische Familie Abass in Deutschland komplett zusammenzuführen. Am Ende ist dieser Traum zum Teil zerplatzt. Doch von Anfang an:

Birgit Homann, selbständig und SPD Ratsfrau, und Ehemann Hubertus (60) sind in Herbern zu Hause. Die drei erwachsenen Töchter Anna, Birte und Caja wohnen inzwischen in Köln. Das Ehepaar hat am 22. April 2016, offiziell begleitet durch das Jugendamt Hamm, die Pflege des damals 17-jährigen Ali Abbas übernommen.

Ali, seines Zeichens Syrer, war 2014 aus seiner Heimatstadt Aleppo vor Krieg und Gewalt alleine nach Islahiye geflohen. Islahiye ist eine Stadtgemeinde in der Provinz Gaziantep in der Türkei, nahe der syrischen Grenze. Dort arbeitete er unter anderem als Müllsammler, um seine Familie, Eltern und Geschwister aus dem Kriegsgebiet heraus in Sicherheit zu bringen.

Nach der erfolgten Familienzusammenführung einige Zeit später, reifte in der Familie der Plan, Ali nach Europa zu schicken. Für die komplette Familie wäre eine Flucht zu gefährlich und unbezahlbar gewesen. „Von Anfang an stand fest, dass ich meine Familie auf jeden Fall nachholen werde. Als Syrer hat man in der Türkei eh keine Chance“, weiß Ali aus Erfahrung. „Daher ist es sieben Jahre lang mein größtes Ziel gewesen, meine ganze Familie nach Deutschland zu holen.“

Traum ist zerplatzt

Sieben Jahre und eine furchtbare Tragödie später ist dieser Traum wie eine Seifenblase zerplatzt. Vater Abdulsameih (52), Mutter Nadia (42) und der kleine Bruder Isa (8) sind bei dem schrecklichen Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion im Februar dieses Jahres ums Leben gekommen. Alle Träume, Wünsche und Hoffnungen unter Schutt begraben.

Doch zurück ins Jahr 2016. Birgit Homann hat von Beginn der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 an aktiv mitgeholfen, geflüchtete Menschen bei ihrem Neubeginn in einem fremden Land zu unterstützen. „Über Bekannte haben wir dann von Ali erfahren, uns nicht vom Für und Wider abschrecken lassen, und ihn in unserer Familie aufgenommen.“

Die Großeltern Bärbel und Dieter Rogoll, mit denen Birgit und Hubertus unter einem Dach wohnen, sowie die inzwischen drei erwachsenen Töchter Anna, Birte und Caja wurden in diese Entscheidung selbstverständlich mit einbezogen und haben sie befürwortet. In den kommenden Jahren hat Familie Homann gemeinsam mit Ali alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die ganze Familie Abbas nach Deutschland zu holen. Zivilregisterauszüge, Reisepässe und Geburtsurkunden für alle neun Personen der Familie mussten für viel Geld und großem Aufwand erworben werden.

Birgit Homann: „Mit diesem Geld aus Deutschland haben wir das Assad-Regime finanziell unterstützt. Deutsches Geld wird für diese bürokratischen Schritte nach Syrien geleitet und für weitere Kriegshandlungen genutzt. Eine Tatsache, die mich sehr wütend macht.“ Letzten Endes ist es immer wieder an der Bürokratie gescheitert. „Ein unbegleiteter Flüchtling, der während des Asylverfahrens volljährig wird, behält sein Recht auf Familienzusammenführung.“ Dieses Urteil vom Europäischen Gerichtshof von 2018, konnte sich erst 2022 in Deutschland durchsetzen.

Birgit Homann, die Großeltern Bärbel und Dieter Rogoll und die Geschwister Abbas wohnen allesamt unter einem Dach.
Birgit Homann, die Großeltern Bärbel und Dieter Rogoll und die Geschwister Abbas wohnen allesamt unter einem Dach. © Claudia Hurek

„Kampf“ mit den Behörden

Nun ist Ali seit April 2022 deutscher Staatsangehöriger und somit verfällt das Recht auf Familienzusammenführung, dass einem anerkannten Flüchtling eigentlich zusteht. „Da klar war, dass es noch länger dauern würde, die Familie komplett zu holen, beschlossen wir zunächst meinen Bruder Muhammed nach Deutschland zu holen“. Von Januar 2022 bis Januar 2023 hat der „Kampf“ mit den Behörden gedauert. Hier war eine Verpflichtungserklärung für alle entstehenden Kosten für Unterbringung und Verpflegung und ein vorab zu zahlender Sprachkurs und eine Ausländer-Reisekrankenversicherung Grundvoraussetzung.

Gott sei Dank kam Muhammed Ende Januar, eine Woche vor dem Erdbeben. Ali, der nach erfolgreichem Schulabschluss, einer Ausbildung zum Sozialassistenten, einer Honoraranstellung als Tanzlehrer an der Musikschule nun eine Ausbildung zum Sport- und Gymnastiklehrer an der Timmermeister Schule in Münster absolviert, hat nie aufgegeben. „Es werden einem immer Steine in den Weg gelegt. Meine Familie hat in der Türkei ‚irgendwie leben können‘. Aber wer möchte so ein irgendwie für seine Angehörigen?“

Eltern und Bruder sterben bei Erdbeben

Dann kam der Tag, der alles zunichtemachte. „Ich habe am 6. Februar in der Schule gesessen und bekam eine SMS von meinem Onkel. Erst habe ich gedacht, dass ist nicht so wichtig. Aber dann habe ich doch zurückgerufen. Mein Bruder war am Telefon und überbrachte mir die Nachricht, dass unsere Eltern und der kleine Bruder Isa noch unter den Trümmern lagen, er selbst konnte sich nach drei Stunden befreien, die drei Schwestern konnten schneller aus den Trümmern gezogen werden. Ich bin sofort nach Hause gefahren.“

Birgit Homann: „Als feststand, dass der Vater nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden konnte, habe ich beim Deutschen Konsulat in Istanbul nachgefragt, ob jetzt der Härtefall eingetreten wäre, nach dem ein Visum ausgestellt werden könne. Ab diesem Zeitpunkt hat die Kommunikation mit den deutschen Behörden gut funktioniert.“ Der kleine Bruder konnte ebenfalls nur noch tot aus den Trümmern geholt werden, die Mutter wurde nach 70 Stunden lebend geborgen, kam noch ins Krankenhaus, starb aber dort aufgrund der Schwere der Verletzungen.

Die Kinder der Familie stehen vor dem völlig zerstörten Haus der Familie.
Die Kinder der Familie stehen vor dem völlig zerstörten Haus der Familie. © Homann

„Mensch zweiter Klasse“

Seit die Familie 2014 von Syrien in die Türkei geflohen ist, hat sie mit der Angst gelebt wieder nach Syrien abgeschoben zu werden. „In der Türkei bist du als Syrer ein Mensch zweiter Klasse. Nein, eigentlich noch weniger“, sagt Ali. Am 27. Februar, drei Wochen nach dem Erdbeben, flog Ali nach Islahiye, wo seine Familie mit vielen anderen Opfern in einem Museum untergebracht war. „Hier mussten alle aber raus, da das Museum für die Touristen wieder öffnen wollte. Wir sind in ein Haus gegangen, das mit einem roten X gekennzeichnet war, also einsturzgefährdet.“

Birgit Homann: „Als ich das erfahren hab, war es mit meiner Geduld vorbei. Hubertus und ich sind nach Istanbul geflogen und von dort mit dem Auto nach Ankara. Ali und seine Familie haben sich von Süden aus auf den Weg gemacht und wir haben uns in Ankara getroffen.“

Immer die Angst im Nacken, ins Erdbebengebiet zurückgeschickt zu werden. „Die Abmeldung aus der Türkei muss an dem Ort der Anmeldung erfolgen!“, also Gaziantep. Nach endlosen Stunden des Wartens auf alle gültigen Ausreisepapiere vor und in der türkischen Ausländerbehörde in Istanbul, bestätigter Flugreservierung für alle, Verpflichtungserklärungen, Visa, Reisepässen konnte das Flugzeug Richtung Deutschland bestiegen werden.

Der grüne Glücksfund

„Ich weiß nicht, wie oft ich in den vergangenen sieben Jahren vor Wut geheult habe“, so Birgit Homann. „Was wir aber jetzt vor der Ausreise in der Türkei mit den dortigen Behörden erlebt haben, ist nicht in Worte zu fassen. Zum großen, großen Glück konnte Alis Bruder Shaaban (24) seinen Pass und seine Geburtsurkunde im Schutt des zerstörten Wohnhauses der Familie finden.“

Homann weiter: „Alles lag in einer grünen Sammelmappe. Ich hatte Ali diese in den Weihnachtsferien mitgegeben, da in der Türkei die Visa-Anträge für die komplette Familie sortiert werden sollten. Deshalb lagen alle Dokumente der Eltern und der minderjährigen Geschwister bereits im deutschen Generalkonsulat in Istanbul. Am 16. Januar 2023 war die Familie in Istanbul zur Visa-Abgabe erschienen. Das ist wie ein Wunder. Wer weiß, wie viel Jahre wir sonst noch hätten kämpfen müssen. Diese grüne Mappe bekommt einen besonderen Platz in unserer Familienchronik.“

Nach all den furchtbaren Erlebnissen sind Shaaban (24), Muhammed (19), Rawan (17), Hiba (12) und Hala (6) bei der Familie inzwischen etwas zur Ruhe gekommen. Alle sind bei der Gemeinde angemeldet. Der weitere Aufenthaltsstatus ist allerdings noch ungeklärt. Muhammed hat bereits seine Steuer-ID und, wäre es nicht so traurig, müsste man herzhaft und ganz laut drüber lachen: eine Anmeldung von der GEZ.