
© Heitbaum (Repro: Vanessa Trinkwald)
Alfons Heitbaum überlebte Grubenunglück in Bülten-Adenstedt: „Da wäre ich fast weg gewesen“
Abschied vom Bergbau
Alfons Heitbaum hatte ein ungutes Gefühl an diesem Tag 1972. Trotzdem fuhr er runter. Stunden später lag der Bergbau-Monteur aus Herbern im Krankenhaus – ein Steuerhebel durchbohrte seinen Arm.
„Einen Bergmann brauchen Sie, der kann Ihnen was erzählen“, sagt Alfons Heitbaum. Eine halbe Stunde später sitzen wir mit dem Herberner am Tisch und sehen, wie sich der Steuerhebel einmal komplett durch seinen nackten Arm bohrt. Damals – da hätte es ihn fast erwischt, als die Decke über ihn hereinbrach und er nur durch Zufall überlebte.
Das Dia in dem kleinen „Gucki“ zeigt die Stunden nach dem Grubenunglück – die Nase blutig, die Augen geschlossen und eine Hand an dem Steuerhebel, der Heitbaums Körper durchdringt. Vor wenigen Stunden war das noch seine Hand an dem Steuerhebel, jetzt ist es die einer Krankenschwester. „Da wäre ich fast weg gewesen“, sagt der 80-Jährige und winkt ab. Eigentlich hätte er ja nichts zu erzählen.
Ab 1957 bei der Gewerkschaft Eisenhütte Westfalia
Als Schlosser fing Heitbaum 1957 bei der Gewerkschaft Eisenhütte Westfalia im Lüner Stadtteil Wethmar an. Später schraubte er die Vortriebsmaschinen für den Bergbauzulieferer zusammen – erst in Deutschland, dann während seiner Auslandsdienste. Heitbaum sah die Welt, reiste nach Guatemala, nach Sizilien, in die Türkei und nach Mexiko, war in Venezuela am Bau eines Autobahntunnels beteiligt. Nein, er war kein Bergmann, aber einer, den die Branche brauchte.
Er war Hilfsmonteur, Monteur, Obermonteur, Richtmeister, Oberrichtmeister, technischer Angestellter – in der Reihenfolge. „Nach dem technischen Angestellten kommt nichts mehr“, sagt er, hebt den Zeigefinger und seine Augenbrauen und schaut dann wieder auf das Buch vor ihm.
Die Fotos sind verblasst, die Erinnerungen sind es nicht
An einem Vormittag im Sommer öffnet Heitbaum für uns sein Fotoalbum. In seinem Garten in Herbern knallt die Sonne, der Rasen ist kaputt von der Irrsinnshitze, hat diesen leicht bräunlichen Farbton, den auch die Fotos aus Mittel- und Südamerika haben – ein wenig verblasst. Seine Erinnerungen an den Bergbau sind es nicht.

Noch heute trifft sich Alfons Heitbaum (80) mit ehemaligen Kollegen. Als Bergbau-Monteur arbeitete er bei der Gewerkschaft Eisenhütte Westfalia. © Vanessa Trinkwald
Fuchs, Dachs und Luchs – so hießen die Bergbau-Monster, die Heitbaum und seine Kollegen von der Westfalia in den 60er- und 70er-Jahren für die Bergleute zusammenbauten. Was ein Akt, die riesigen Vortriebsmaschinen unter Tage zu befördern und sie anschließend wieder zu montieren. Die Maschinen wurden in dieser Zeit immer größer und hatten immer mehr Kraft, erzählt Heitbaum: „WAV170 – die Zahl ist die Stärke des Motors für den Schneid am Antrieb.“
„Ich glaube, die Mexikaner hatten kein Geld, aber auch keine Angst“
Die WAV170 war wie Fuchs und Dachs und Luchs eine Erleichterung für die Arbeiter, die täglich nur die Erde ausschachteten und tagtäglich nur das Dunkel sahen. Einen Tag brauchte es, bis eine Maschine dort unten stand. Heitbaum sah sie alle – die Schächte dieser Erde. Und die Männer darunter.
„Mexiko-Stadt zum Beispiel steht auf einem ausgetrockneten See, da ist unter Tage Kies“, erzählt Heitbaum. Erschwerte das die Arbeit? „Nö eigentlich nicht“, sagt er, schaut wieder auf das Fotoalbum und lacht einmal laut. „Aber da sah es manchmal aus… ich glaube, die Mexikaner, die hatten kein Geld, aber auch keine Angst.“
„Ich hatte ein ungutes Gefühl – und ging trotzdem runter“
Es passierte nie etwas in Mexiko, trotz der mangelnden Sicherheitsvorkehrungen auch nie etwas in Südamerika. Aber da war dieser Tag Anfang Dezember. 1972 war das, in der Grube Bülten-Adenstedt, einem Eisenerzbergwerk im Landkreis Peine. Heitbaum hatte ein „ungutes Gefühl“ – und ging trotzdem runter, stand auf dem Steuerstand der Tunnelvortriebsmaschine, hatte den Hebel in der Hand. Und bückte sich zufällig, um seinem Kollegen unter dem Förderer einen Schlüssel zu geben.
Sein ungutes Gefühl täuschte ihn nicht. Als die Decke einkrachte und die Erdmassen auf ihn niederfielen wie tausend nasse Säcke, wurde es im Dunkel der Grube rabenschwarz. Eine Stunde lang lag der Monteur an der Stelle, die die Welt, in die er gereist war, an diesem Tag im Dezember zusammenschrumpfen ließ. Von all den Schächten, die er gesehen hatte, war es ausgerechnet der in Niedersachsen, der ihn unter sich begrub. „Hätte ich mich nicht gebückt, hätte man mit dem Sarg kommen können.“

Alfons Heitbaum (l.) war immer unten – hier auf der Zeche Radbod in Hamm-Bockum-Hövel. © Heitbaum
Erst später merkte Heitbaum, dass sich der Steuerhebel durch seinen Arm gebohrt hatte. Eine Schwester im Krankenhaus umschloss den Hebel mit ihren Fingern, wenig später umschloss Alfons die seiner Frau. „Ihr Mann ist verunglückt“, sagte man ihr am Telefon. „Er lebt.“ Mehr wusste Marita Heitbaum nicht, als sie im Auto nach Peine saß.
Die letzte Dienstreise ging nach Sibirien
Die Erinnerungen an die quälenden Stunden und das elende Warten sind ihr geblieben. Marita ist es, die den „Dia-Gucki“ mit dem Krankenhausfoto aus der Schublade kramt. Mein Gott, was war das für ein Schock. Den Dezember 1972 verbrachte Alfons zu Hause im Krankenlager. Nach Weihnachten konnte er wieder arbeiten.
Alfons und Marita Heitbaum schieben das Fotoalbum beiseite – und auch den Moment, der Alfons fast das Leben kostete. „Weißt du noch? Auf deiner letzten Dienstreise nach Sibirien bekamst du so eine schöne, junge Dolmetscherin zur Seite“, sagt die 75-Jährige plötzlich. „Na, ich weiß nicht“, entgegnet Alfons: „So jung war die aber auch nicht mehr.“ Die beiden schauen sich an, sie lachen.
Nach all den Jahren treffen sich sechs Kollegen von damals heute noch immer in der Alten Mühle in Herbern. Wenn die Ehefrauen dabei sind, lauschen sie den Bergbau-Erzählungen. Dann witzeln die Frauen manchmal: „Einer fährt schon wieder runter.“ Aber anders als an diesem Tag im Dezember kommt Alfons dann immer wieder von allein wieder rauf.
Arbeitet seit Juni 2024 in der Redaktion des Hellweger Anzeigers. War in den vergangenen Jahren bereits für die Ruhr Nachrichten im Kreis Unna unterwegs. Mag Nachrichten und persönliche Geschichten gleichermaßen, arbeitet aktuell aber eher im Hintergrund.
