Heimatverein-Archivar Johannes Buss vor dem ehemaligen Wohnhaus des Ehepaares Rosa und Siegmund Gottschalk.

© Markus Gehring

Rosa und Siegmund Gottschalks letzte „Reise“: Von Nienborg in den Tod

rnDeportation vor 80 Jahren

Es ist ein Kapitel der Unmenschlichkeit und gleichzeitig auch das mutiger Mitmenschlichkeit: das Schicksal des jüdischen Ehepaars Gottschalk in Nienborg, von Nazis deportiert und ermordet.

Heek

, 08.08.2021, 06:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Es jährt sich in diesem Jahr zum 80. Mal, dass Nazischergen Rosa und Siegmund Gottschalk aus ihrer Wohnung in der Hauptstraße zu ihrer letzten „Reise“ abholten. Das Ende einer Lebensgeschichte in Nienborg, in der sie als jüdische Bürger des Ortes in den Jahren vor ihrer Verschleppung nach Riga zunehmend Repressalien ausgesetzt waren: Vom Tragen des Judensterns, dem Verbot beruflicher Tätigkeit, Demütigungen bis hin zur Zwangsversteigerung ihres Hauses und ihres Besitzes sowie Zerstörungen während der Pogromnacht am 9. November 1938.

Heeker und Nienborger Schüler und Schülerinnen der Ahauser Anne-Frank-Realschule haben bereits im Schuljahr 2007/08 in einer aufwendigen Dokumentation die Lebensgeschichte der Familie Gottschalk eindrucksvoll aufgearbeitet. Der Titel: „Uroma, wer waren die Gottschalks?“

Zwischen Nazis und „Judenfreunden“

Auch wenn es ausreichend Belege dafür gibt, dass es in Nienborg und Heek zahlreiche überzeugte Nazis gab, die Hakenkreuz-Fahnen auf vielen öffentlichen Veranstaltungen und Festen wehten, so steht der Name Josef Bruns für das genaue Gegenteil: Der Witwer bot den völlig mittel- und obdachlosen Gottschalks nach dem Verlust ihres Zuhauses im Jahr 1937 in seinem Haus an der Hauptstraße 23 (früher Nienborg Nr. 6), das er mit seiner Tochter Klara bewohnte, eine Bleibe: Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer. Mietfrei.

Die Tafel am ehemaligen Haus von Josef Bruns erinnert an dessen mutige Haltung.

Die Tafel am ehemaligen Haus von Josef Bruns erinnert an dessen mutige Haltung. © Christiane Hildebrand-Stubbe

So manchem Bewohner im Ort und erst recht der Obrigkeit waren solche „Judenfreunde“ ein Dorn im Auge. Zu denen gehörte auch Metzger Bernhard Lammers, der gegenüber dem Haus Bruns wohnte und bei dem „der Jude Gottschalk ein und aus geht“, wie es in einem Schriftstück der NSDAP-Kreisleitung festgehalten wird. Er und auch einige wenige andere „Judenfreunde“ können den 10. Dezember 1941 dennoch nicht verhindern.

Den Tag der Deportation von Rosa und Siegmund Gottschalk, den beiden letzten jüdischen Nienborger Bürgern. Das Ziel der „Reise“ wird ihnen nicht genannt, aber zu dieser Zeit war jedem jüdischen Bürger bereits klar, dass sie in den Untergang führen wird.

In Ahaus werden die Gottschalks, wie die vielen anderen Menschen jüdischen Glaubens, die man an diesem Tag ihres Zuhauses beraubt hat, in der Viehversteigerungshalle auf Lastwagen „verladen“ und nach Münster abtransportiert.

Im Deportationszug nach Riga

Von dort aus geht es weiter mit dem Zug Richtung Riga – zusammen mit 1029 weiteren Deportierten. Eine Fahrt in den Tod. Wie und wo das Nienborger Ehepaar umkam, ist nicht dokumentiert. Ob im berüchtigten Rigaer Ghetto, in dem wenige Tage vor dem Eintreffen des Deportationszuges aus dem Münsterland 27.000 Juden erschossen wurden, ob im benachbarten KZ, ob im Arbeitseinsatz, ob durch Krankheit, Hunger oder Kälte, darüber gibt es keine Aufzeichnungen.

Wohl aber über das Leben, das Rosa und Siegmund bis zu ihrer Verschleppung in Nienborg führten. Viehhändler Siegmund, Jahrgang 1891, und seine zehn Jahre ältere Ehefrau sind geachtete Bürger des Ortes. Der aus Metelen stammende Großvater Salomon Gottschalk hatte sich bereits 1849 hier niedergelassen und ist, wie später sein Sohn Philipp, als Metzger tätig.

Die Familie kommt zu Ansehen und Wohlstand. Philipp Salomon und seine Frau Lisette Wolff aus Südlohn bekommen vier Kinder. Neben Tochter Henrietta die Söhne Salomon, Siegmund und Joseph, wobei Henrietta und Salomon noch im Kindesalter sterben.

Joseph und seine Frau Meta aus Vreden erleben beide die Machtübernahme durch die Nazis nicht und sterben bereits 1931 und 1932. So bleiben letztlich Siegmund und Rosa Gottschalk als letzte Abkömmlinge der Familie übrig, sind über Jahre durchaus in die Gemeinschaft des Ortes eingebunden.

Die Stolpersteine vor dem ehemaligen Wohnhaus der Gottschalks.

Die Stolpersteine vor dem ehemaligen Wohnhaus der Gottschalks. © Christiane Hildebrand-Stubbe

Der Viehhändler gilt als sympathisch und hilfsbereit, seine Frau als die, die im Haus die „Hosen anhat“. Man ist, würde man heute sagen „integriert“. Selbst die strenge Religiosität der beiden wird toleriert.

Das Klima ändert sich schlagartig mit der Machtübernahme der Nazis 1933 und den folgenden Jahren der von oben diktierten Unterdrückung Andersdenkender, gegen die es in Nienborg und Heek so gut wie keinen Widerstand gibt.

Heimatverein stellt sich der Herausforderung

Für den Heimatverein Nienborg war es lange Jahre eine Herausforderung, diese Zeit historisch zu beleuchten. „Der Heimatverein hat sich anfangs damit schwer getan“, bestätigt dessen Archivar Johannes Buss.

Die Schüler-Arbeit habe aber viel dazu beigetragen, dass man sich der Verantwortung gestellt hat. Seit 1984 steht auf dem alten Nienborger Friedhof ein Findling mit einer Gedenktafel als Erinnerung an die jüdischen Bürger und als Mahnung für die Lebenden.

Stolpersteine vor dem ehemaligen Wohnhaus der Gottschalks und eine Tafel an der Mauer des Hauses von Josef Bruns sind weitere Hinweise darauf, dass man mittlerweile mit der Vergangenheit anders umgeht. Allerdings werden die Listen über die an den Verwüstungen der Pogromnacht Beteiligten wie auch die der NSDAP-Mitglieder aus Heek und Nienborg weiter unter Verschluss gehalten. Mit Hinweis auf deren Nachkommen.

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