Der Morgen des ersten Weihnachtstages zeigt sich grau und trübe. Da bleiben die Lkw-Fahrer auf den Rastplätzen Hohe Mark West und Ost lieber in ihren Führerhäusern. Manche werden durch das Klopfen der Ehrenamtlichen des Netzwerks Brücken bauen aufgeweckt. Zögerlich lupfen sie die Vorhänge, die in den Führerhäusern für ein wenig Privatsphäre sorgen.
Erstaunt blickt auch Sergej gegen 10 Uhr auf die Leute, die in Warnwesten und teils mit Nikolausmützen auf dem Kopf vor seinem Autotransporter stehen. Sie reichen ihm einen blauen Zugbeutel mit Halternmotiven entgegen. Bereits im dritten Jahr verteilen die Engagierten des Netzwerks Brücken bauen Weihnachtsüberraschungen an Fernfahrer, um ihnen die langweiligen Weihnachtstage zu versüßen.

In diesem Jahr besteht der Inhalt der von der Stadtagentur gespendeten Beutel aus Dosensuppen und -eintöpfen, Würstchen im Glas, Mettwürsten, Studentenfutter und Müsliriegeln, Schokolade, Gebäck, Feuerzeugen, einem Schoko-Weihnachtsmann und einem Weihnachtsgruß in verschiedenen Sprachen. Alles wurde von den rund 150 Mitgliedern des Netzwerks gespendet.
Erfahrungen aus den Vorjahren flossen in die Vorbereitung mit ein: „Wir haben im Vorlauf die Spendenliste professionalisiert und unsere Warnwesten und Nikolausmützen signalisieren, dass wir in friedlicher und weihnachtlicher Mission unterwegs sind“, erklärt Wibke Bräuer.
Dolmetscher brechen das Eis
Außerdem helfen Zettel mit Kurzbeschreibungen der Aktion in verschiedenen Sprachen, Vertrauen aufzubauen. Die besten „Eisbrecher“ sind allerdings die Dolmetscher im Team, die auf Russisch, Ukrainisch, Rumänisch oder Polnisch den Kontakt zu den Fahrern herstellen.
„Brücken bauen“ ist ein Netzwerk für soziales und ehrenamtliches Engagement mit 150 Engagierten in Haltern am See. Es funktioniert unkompliziert über eine WhatsApp-Gruppe.
Weitere Infos gibt es bei unter www.bruecken-bauen-haltern.de und
Thomas Knuth, thomas.knuth52@gmail.com, Tel. 0151-53574544
Gerburgis Sommer, ger-sommer@web.de, Tel. 0157-73184748
Sergej beugt sich mit einem Lächeln aus seinem roten Führerhaus und nimmt das Geschenk mit einem herzlichen Dankeschön auf Russisch an. Dennis Korten übersetzt, dass Sergej aus Astrachan am Kaspischen Meer stamme und seine Tour durch Europa am 22. Oktober in Litauen gestartet habe.
Früher sei er in Russland mit einem eigenen Lkw selbständig gewesen. Doch wegen enorm gestiegener Gebühren lohne sich das nicht mehr. Er sei ein Gegner Putins und seine Zukunft möchte er sich in Litauen aufbauen – wenn er denn dortbleiben dürfe. Erst im Frühling werde er wieder nach Hause fahren.
Pawel sieht Familie alle drei Monate
Ein paar Meter weiter parkt Pawel, er ist Weißrusse und stammt aus Belarus. Das Leben dort beschreibt er als sehr schwer. Geld sei dort kaum zu verdienen. Seit fünf Jahren fährt der 29-Jährige Waren durch Europa. Im Moment arbeitet er für einen litauischen Autospediteur und verdient rund 75 bis 80 Euro am Tag.

Seine drei Kinder im Alter von drei, sechs und neun Jahren sehe er nur selten, bedauert Pawel; alle drei Monate sei er für zwei Wochen zu Hause. Das Führerhaus ist recht klein, aber seine Firma kaufe gerade Trucks mit größeren Führerhäusern, in denen könne man aufrecht stehen. Heidrun Schwarz ist erschüttert: „Seine Koje ist so eng, man kann sich nicht vorstellen, dass er sich monatelang darin aufhalten muss.“
Schwierige Alltagsbedingungen
Die spartanische Wohnsituation ist nur ein Detail des schwierigen Alltags. Die ausländischen Fernfahrer nutzen vor allem die sanitären Anlagen an den Raststätten; ein Besuch in der Gaststätte ist dagegen für viele zu teuer. Sie bereiten sich mit Campingkochern neben ihren Trucks, manchmal auch auf den leeren Ladeflächen einfache Mahlzeiten zu.
Etwa zwanzig Beutel verteilen die Netzwerker auf den Rastplätzen in Lavesum, dann geht es weiter zum Autohof nach Senden. Hier stehen noch einmal an die 40 Lkw. Inzwischen hat es zu regnen begonnen, noch immer haben viele Fahrer ihre Kabinen verdunkelt, vertreiben sich mit Videoschauen die Zeit.

Vitalii aus Poltawa in der Ukraine treiben die unverhofften Geschenke Tränen in die Augen. Er ist seit vier Monaten unterwegs und hat einen Jahresvertrag unterschrieben. Erst nach dessen Ablauf wird der 54-Jährige wieder nach Hause fahren. Bis dahin ist er auf den Autobahnen in ganz Europa unterwegs – und sorgt sich um die Angehörigen im Krieg.
Die meisten Fahrer, die die Ehrenamtlichen in Lavesum und Senden antreffen, stammen aus Osteuropa, ein Fahrer kommt aus Irland, ein Deutscher und zwei Filipinos sind die Ausnahmen.
Momente der Rührung
Ihre Schicksale berühren, genauso wie die Gesten, mit denen sich einige Fahrer bedanken: Sie reichen Süßigkeiten und heimische Spezialitäten an die Brückenbauer weiter.
Die diesjährige Aktion wurde vom WDR begleitet. „Wir freuen uns sehr, wenn sich unsere Idee verbreitet und Nachahmer auf anderen Rastanlagen aktiv werden“, resümiert Gerburgis Sommer. Erste Anfragen gibt es bereits.