Die Glashütte hat die Industrie nach Haltern gebracht. Ihre Glasprodukte wurden bis nach Indien verkauft. Eine Geschichte vom Aufstieg und Niedergang der Halterner Glashütte.
Zwischen Lippe und Recklinghäuser Damm liegt das ehemalige Gelände der Halterner Glashütte, das seinerzeit die Industrielle Revolution nach Haltern gebracht hat. Wo zu Hochzeiten bis zu sieben Tonnen Quarzsand in Glas verwandelt wurden, vermietet heute ein Unternehmen aus Recklinghausen Büroflächen auf 5000 Quadratmetern an Firmen.
Dass hier ein Unternehmen von internationaler Bedeutung seinen Sitz hatte, davon lässt sich heute beim Vorbeifahren über den Recklinghäuser Damm kaum etwas erahnen.
Wann genau die Glashütte gegründet wurde, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, schreibt der Heimathistoriker Ulrich Backmann in seinem Halterner Jahrbuch aus dem Jahr 1993. Fest steht nur, dass die Königliche Regierungsabteilung des Innern der „Commanditgesellschaft R. Beichler & Comp.“ am 6. September 1872 die Erlaubnis erteilte, eine Hohlglashütte zu erbauen.
Für Haltern als Glasproduktionsstätte sprachen damals laut dem Heimathistoriker vor allem zwei Aspekte: der Kohleabbau in unmittelbarer Nähe sowie die örtlichen Quarzsande - dem Hauptbestandteil des Glases.
Die Industrielle Revolution in Haltern gefiel nicht jedem
Mit der Glashütte kam die Industrie in die Seestadt. 1882 war der Betrieb laut dem Stadtarchivar Gregor Huesmann im Besitz des Unternehmers Gustav Schönert aus Johannestal und des Lampenfabrikanten Albert Riegemann aus Elberfeld. Dass sich das Stadtbild - damals lebten vor allem Handwerker, Kaufleute und Tageslöhner in Haltern - durch die Glashütte veränderte, habe nicht jedem gefallen, schreibt Ulrich Backmann in seinem Jahrbuch.
Mit der Glasindustrie kamen auch die Arbeiter: Glasmacher und Schleifer wurden aus Böhmen, Schlesien, Thüringen und Ostwestfalen angeworben. Der Wiege der Glasindustrie, schreibt Backmann. Denn hier fehlten die geschulten Arbeiter. „Namen wie Lütkemeyer, Gronemeyer, Mühlbauer, Herold und Lojack tauchten damals erstmalig in Haltern auf.“
Der erste Auftraggeber der Glashütte war ein Unternehmen aus Münster, das Lampenartikel in Haltern anfertigen ließ. Doch mit dem Bau des dritten Ofens, bei dem das Schmelzgut nicht mehr in Berührung mit dem Ofen kam und wodurch die Qualität verbessert wurde, fanden die Halterner Glaswaren ihren Weg ins Ausland.
Mit Exporten nach China, Südamerika, Südafrika, Russland, den Nahen Osten und Indien habe die Glashütte in den 1880er-Jahren eine kurze Blütezeit erlebt, schreibt Ulrich Backmann. In Frankreich und Belgien waren vor allem Lampenzylinder, Kristall- und Stahlglas gefragt.
Der erste Schicksalsschlag bleibt nicht der letzte
Doch nur rund zehn Jahre nach der Eröffnung an der Lippe ereilte die Glashütte der erste Schicksalsschlag. 1882 wurde das Gelände von Hochwasser überflutet. Der „neuerbaute, gasbetriebe Neße-Ofen“ wurde dabei zerstört. Einige Halterner hatten das mit dem Bau in unmittelbarer Nähe zur Lippe schon vorher prophezeit.
Kurz darauf wurde ein neuer Ofen gebaut. Doch nur zwei Jahre nach der Überschwemmung stürzt die Kuppel des Ofens ein. Erst nach der wohl schlimmsten und dritten Überschwemmung, bei der nicht nur die Glashütte überflutet, sondern auch die Stadt unter Wasser stand, wurden bauliche Vorkehrungen getroffen, die eine erneute Überflutung unmöglich machten.
Doch es war nicht nur die Natur, die dem Halterner Betrieb zuleibe rückte, sondern auch die wirtschaftlichen Bedingungen an sich. Ein paar Jahre nach der Eröffnung meldete die Glashütte erstmals Konkurs an, in dessen Folge der Elberfelder Lampenfabrikant Albert Riegermann die Geschäfte übernahm.
Weil sich die Produktion damals ausschließlich auf Glas für die Beleuchtungsindustrie beschränkte, sei Riegermann wenig flexibel und wettbewerbsfähig gewesen, schreibt Backmann. 1899 verkauft er sein Werk an eine Gruppe von Glashändlern aus Ostwestfalen und Hessen - darunter Heinrich Ritzenhoff. Die Westfälischen Glashüttenwerke Haltern GmbH waren gegründet. Die Produktion wurde auf sogenanntes Hohlglas erweitert, Wohnungen für Arbeiter wurden gebaut und Kunden durch gezielte Werbung angezogen. Im Jahr 1912 waren 92 Arbeiter in der Glashütte beschäftigt.
Und dann kam der Krieg
Und dann kam der Krieg: Mit dem Ersten Weltkrieg kam die Produktion in der Glashütte zum Erliegen. Die Mitarbeiter wurden zum Wehrdienst eingezogen. Die, die nicht wehrfähig waren, wurden zur Wehrproduktion abberufen und in den Sprengstoffwerken der WASAG in Sythen eingesetzt.
Nachdem der Krieg beendet war, hatte sich der Geschmack der Kunden derart geändert, dass das Werk reagieren musste. Ein neues Gebäude mit neuem Ofen wurde gebaut, die Energieversorgung von Dampf auf Strom umgestellt. „Während andere westfälische Glashütten eingingen“, schreibt Backmann, habe der Neubeginn in Haltern die Glashütte die Nachwehen des Krieges einigermaßen verwinden können.
„Vom damaligen Produktionsvolumen her war Haltern die größte westfälische Hohlglashütte, in der Artikel für Restaurationsbetriebe wie auch Gebrauchsartikel für den Haushalt hergestellt wurden“, hält Backmann fest. Während des Zweiten Weltkrieges gelang es dem Werk, seinen Betrieb in geringerem Umfang bis zum Mai 1941 aufrechtzuerhalten. Dann wurde das Werk gezwungen, zu schließen, die Mitarbeiter eingezogen oder gezwungen, für die Rüstungsindustrie zu arbeiten.
5 Tonnen Quarzsand, 20.000 Gläser, 80 verschiedene Formen
Die Kriegsschäden an der Glashütte waren so gering, dass das Unternehmen seinen Betrieb 1946 wieder aufnehmen konnte. Die Nachfrage nach Glas war nach dem Krieg so enorm, dass der Betrieb sich vergrößern musste. „Täglich wurden etwa fünf Tonnen Quarzsand und Kalk zur Herstellung von 20.000 Gläsern in bis zu 80 verschiedenen Formen verarbeitet“, so Backmann. Alle Artikel waren bis 1951 ausschließlich mundgeblasen.
1962 werden Teile der Produkte maschinell hergestellt. Das Unternehmen kann seine Produktion von fünf auf sieben Tonnen verarbeiteten Quarzsand täglich ausweiten - eine Steigerung von rund 40 Prozent. Die Produktion konzentriert sich jetzt hauptsächlich auf Pilsgläser, aber auch auf Krüge, Vasen und Glaspokale. 1969 zu seinem 70. Geburtstag zählt die Glashütte 200 Mitarbeiter.
In den 1970er-Jahren dann deutet sich das endgültige Ende der Glashütte in Haltern an: Der Preis des Öls, mit dem die Öfen befeuert wurden, stieg, ebenso die Löhne der Arbeiter. Hinzu kamen die steuerlichen Verpflichtungen. Für die ausländischen Mitarbeiter etwa aus Portugal, Spanien und Italien, die derzeit 25 Prozent der Belegschaft ausmachten, konnten nur schwer Wohnungen gefunden werden. Das Unternehmen meldet Konkurs an und kommt ab hier nicht mehr auf die Beine.
Mit 80 Mitarbeitern wird der Betrieb notdürftig am Leben erhalten
Die Mitarbeiter melden sich arbeitslos und die Glashütte wechselt innerhalb von drei Jahren drei Mal ihren Namen, wird von zwei Geschäftsleitern mit 80 Mitarbeitern notdürftig am Leben erhalten.
Doch schlussendlich waren es neben dem sinkenden Absatzmarkt die billigen Importe aus anderen Ländern, die hohen Löhne und die schwächelnde deutsche Glasindustrie, die für die Halterner Glashütte das Ende einläuteten, argumentierte der Gesellschafter Franz Lohscheller. Der Betriebsrat und die Gewerkschaft hingegen sahen laut Backmann den eigentlichen Grund für den Niedergang in den „kaum überschaubaren Gesellschaftsbeteiligungsverhältnissen“ und wechselnden Zuständigkeiten, die Unsicherheit verbreitet hätten.
Gebürtige Münsterländerin, seit April 2018 Redakteurin bei den Ruhr Nachrichten, von 2016 bis 2018 Volontärin bei Lensing Media. Studierte Sprachwissenschaften, Politik und Journalistik an der TU Dortmund und Entwicklungspolitik an der Philipps-Universität Marburg. Zuletzt arbeitete sie beim Online-Magazin Digital Development Debates.
