Die Bergwerke bauten rund um ihre Schächte Siedlungen, aber nicht unbedingt für die Kumpel aus Haltern. Die wären auf ihrer eigenen Scholle viel zufriedener. „Stimmt“, sagt Josef Jelitte.
Männer aus Haltern und benachbarten Orten des Münsterlandes waren auf den Zechen willkommene Arbeitskräfte. In der Regel pendelten sie mit Bussen, Bahn, Fahrrädern oder Motorrädern zu den einzelnen Schächten. Denn die Kolonien in den Städten wie Marl oder Recklinghausen wurden nicht unbedingt für sie gebaut. Die Auswärtigen sollten stattdessen auf ihrer Scholle wohnen bleiben, weil sie dann sicherlich zufriedener und damit tatkräftiger seien, meinten die Bergwerksdirektoren. „Damit hatten sie recht“, bestätigt Josef Jelitte, der von 1950 bis 1981 auf der Zeche Auguste Victoria 6 als Steinhauer für das Schachtbauunternehmen Deilmann-Haniel arbeitete. Der Stadtrat von Haltern überlegte deshalb 1955, selbst Zechensiedlungen zu bauen. Zum Beispiel im Dahläckern oder an der Conzeallee.
Enteignungsverfahren geprüft
1955 herrschte Wohnungsmangel in Haltern. Die Politiker debattierten vor diesem Hintergrund lange darüber, wo in Haltern Platz für Siedlungen, insbesondere eine Bergarbeiter-Kolonie mit 30 Wohnungen, sein könnte. Als Bauherrn wollte sie private Investoren anstiften, den generellen Wohnungsmangel in Haltern zu beheben. Im Gegenzug versprachen Stadtverwaltung und Ratsherren, alle Initiativen zu unterstützen, egal, ob es sich um eigenfinanzierte Häuser, Siedlungbauten wie im Sythener Grotekamp oder um Bergarbeiterwohnungen handele. Das schrieb damals die Halterner Zeitung.
Die Stadt schreckte nicht einmal vor rigiden Maßnahmen zurück. Sie wollte Enteignungsverfahren einleiten, um Bauland zur Verfügung stellen zu können. „Dem Kampf der Maurerkelle gegen die Wohnungsnot wünschen wir Glück in Stadt und Amt“, formulierte der Redakteur der Halterner Zeitung im Januar 1955 salbungsvoll.
24 Bergarbeiterheime geplant
Die KAB beschwerte sich, die Stadt tue nicht genug, um Bergleuten Wohnungen anzubieten. „Der Stadtdirektor möge Auskunft darüber geben, was in dieser Sache geschehen sei, damit die Bevölkerung wisse, dass hier sehr eifrig dafür gearbeitet würde“, forderte zu jener Zeit Ratsherr Dr. Wilhelm Schlüter.
Stadtdirektor Jäkel berichtete, das Gelände zwischen Conzeallee und Annabergstraße sei ausgeguckt worden. Architekt Eilert habe einen Plan für 24 Bergarbeiterheime erarbeitet. Das Bauamt habe sich mit diesem Plan bereits befasst, jedoch leider festgestellt, dass das Projekt so schnell nicht verwirklicht werden könne - zumal nur ein geringer Teil des Geländes als Bauland ausgewiesen sei und Straßen gebaut werden müssten. Die Kosten dafür ermittelte der Stadtdirektor mit etwa 350.000 DM. Zuschüsse seien nur in geringem Maße zu erwarten.
Graf von Galen wollte nicht verkaufen
Darüber hinaus ergäben sich viele andere Schwierigkeiten, vor allem bezüglich des Grundstückserwerbs. Nur der kleinste Teil gehöre der Stadt. Der Hauptbesitzer, Graf von Galen, sei nicht bereit zu verkaufen. Er habe dann vorgeschlagen, führte Stadtdirektor Jäkel weiter aus, die Bergarbeiter-Heime im Dahläckern zu errichten, zumal das Gelände dort zum größten Teil erschlossen sei und keine wesentlichen Kosten mehr erfordere. Architekt Eilert stellte stattdessen einen Antrag auf Enteignung des Grafen. Erfolgreich war er damit nicht.
Im Akkord für das neue Haus gearbeitet
17 Parzellen vergab die Stadt unter Bürgermeister Gerhard Ribbeheger schließlich im Dahläckern an Bergleute der Zeche Auguste Victoria. Das Bergwerk beteiligte sich finanziell. Josef Jelitte bewarb sich als einer von vielen um ein Grundstück. Zunächst kam er nicht in die Auswahl, im zweiten Anlauf klappte es dann doch: Er durfte an der Straße Kleine Brede bauen, musste aber Eigenkapital mitbringen. Für 600 Quadratmeter zahlte der Bergmann statt der zunächst vom Stadtrat festgelegten 4,50 DM pro Quadratmeter 5,20 DM.
Was heute wie Taschengeld klingt, war zu jener Zeit viel Geld für das Ehepaar Jelitte mit zwei Kindern - trotz einer kleinen Unterstützung, die der Staat ihm als Heimatvertriebener aus Oberschlesien gewährte. Josef Jelitte, der später für die SPD im Rat saß, arbeitete im Akkord, um seiner Familie ein neues Heim bieten zu können. 1958 war das Haus fertig. Hier lebt das Ehepaar Jelitte (95 und 94 Jahre alt) noch heute.
„Das Bergwerk Auguste Victoria war ein Familienbetrieb“
Wie viele Bergleute in den 50er-Jahren in Haltern wohnten, das weiß Josef Jelitte nicht mehr. Auf jeden Fall wurden 1600 knappschaftlich Versicherte betreut; das waren die Bergleute selbst, ihre Familien und die Rentner.
In den 50er-Jahren stieg von Monat zu Monat die Zahl der Bergarbeiter, die als Pendler ins Ruhrgebiet strömten. „Wir wollten alle Geld verdienen. Dafür haben wir malocht und keine Schicht geschwänzt“, erzählt Josef Jelitte. Die Arbeiter kamen nicht nur aus dem ländlichen Haltern, sondern Tag für Tag aus Coesfeld und Dülmen, sogar aus Gronau, zu den Schächten. „Die Kumpel haben manchmal für uns Kartoffeln mitgebracht oder auch mal Tannenbäume“, erinnert sich Josef Jelitte. Von dem Zusammenhalt schwärmt er noch heute: „Das Bergwerk Auguste Victoria war ein Familienbetrieb, wir haben uns alle gut verstanden und standen füreinander ein.“
Münsterländer waren stets willkommen
Münsterländer waren auf den Bergwerken als zuverlässige Kumpel willkommen. „Die Zechenleitungen wissen, dass der Münsterländer kein Wandervogel ist. Hat er sich erst mit seinem Arbeitsplatz angefreundet, springt er so leicht nicht wieder ab“, hieß es in einem Artikel von damals. Wenngleich im Laufe der Zeit auch mancher das Pendeln leid wurde und beabsichtigte, im Revier sesshaft zu werden.
Aber die Zechen waren nicht scharf darauf, ihre münsterländischen Kumpel in Siedlungen nahe den Schächten zu verpflanzen. Lieber bezahlten sie die Autobusfahrten, lieber pumpten sie Gelder für Bergarbeiterwohnungen in die ländlichen Bezirke. „Denn ein Arbeiter, der der Heimatscholle verbunden bleibt, ist zufriedener, hat mehr Gelegenheit, sich echt zu entspannen und zu erholen und wird vielleicht sogar das Betriebsklima günstig beeinflussen“, hieß es seitens der Zeche Auguste Victoria.
Wo Bergarbeiter wohnten, entschlossen sich die Zechen zu besonderen Betreuungsmaßnahmen. So war zum Beispiel eine Fürsorgerin eingesetzt, um in den Familien der Bergleute nach dem Rechten zu sehen. Für dringende Notfälle hatte sie sogar einen Notgroschen zur Hand.
Kohlesteuer für die Infrastruktur
Bis 1960 sind in Haltern weitere Bergmanns-Eigenheime gebaut worden, so zum Beispiel im Westen der Stadt. Aus der Kohlesteuer erhielt die Stadt Geld für die Entwicklung der Infrastruktur. Als diese Abgabe zur Disposition stand, schrieb die Halterner Zeitung: „Ohne diese finanzielle Hilfe entsteht in den neuen Siedlungen wieder jenes Gefälle des Wohnstatus, das im Zeitalter der Klassen für Arbeiterviertel kennzeichnend war.“ Diese Sorge war unberechtigt. Heute ist die Entwicklung Halterns als Wohnstadt kaum zu bremsen.
Historische Wohngebäude als sichtbares Erbe des Bergbaus sind in Haltern nicht zu finden. Die Bergleute bauten von Anfang an unauffälig - zunächst konzentriert, dann verteilt über das ganze Stadtgebiet. So mischten sie sich unter die vielfältigen Berufsgruppen. Als Bergmann nicht mehr zu erkennen, aber immer noch da und über das Ende hinaus mit dem Herzen der Kohle verbunden. So wie Josef Jelitte.
Haltern am See ist für mich Heimat. Hier lebe ich gern und hier arbeite ich gern: Als Redakteurin interessieren mich die Menschen mit ihren spannenden Lebensgeschichten sowie ebenso das gesellschaftliche und politische Geschehen, das nicht nur um Haltern kreist, sondern vielfach auch weltwärts gerichtet ist.
