In die Halterner Geschichte ist es als „Polenlager“ eingegangen. Im Camp für „displaced persons“ lebten aber Angehörige verschiedener Nationen, die in ihr Leben zurückfinden mussten.
Zur Nachkriegsgeschichte der Stadt gehört die Errichtung eines Lagers für befreite Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die von den Alliierten als „displaced persons“ (DP) bezeichnet wurden. Überall wurden zentrale Unterkünfte im Land geschaffen, weil man die Sorge hatte, dass sich die entwurzelten Menschen in Massen auf den Heimweg begeben und so Vorstoß- und Nachschubwege für das Militär behindern könnten.
Haltern bot sich wegen seiner günstigen strategischen Lage zwischen Ruhrgebiet und Münsterland als Standort für ein solches DP-Lager an. Es gehörte neben den Camps in Minden und Greven zu den größten in Westfalen. Zwangsarbeiter in Haltern hatten unter anderem in der Landwirtschaft, bei den Quarzwerken in Flaesheim, im Sprengstoffwerk der WASAG in Sythen sowie bei den Chemischen Werken in Marl geschuftet.
Das DP-Lager in Haltern - ein Zuhause auf Zeit für entwurzelte Menschen
Im DP-Lager, für das im Westen der Stadt 3800 Bürger ihre Wohnungen räumen mussten (414 Häuser mit 869 Wohneinheiten), kamen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter vor allem aus dem Ruhrgebiet unter. Berichten zufolge sollen sich schon 1945 3000 Russen und 1400 Polen im DP-Lager Haltern aufgehalten haben. Über den Bahnhof Haltern sollen allein 80.000 russische und 30.000 italienische DPs in ihre Heimat zurückgekehrt sein.
Das Verhältnis zwischen zu den Halternern war angespannt
Das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung war aus mehreren Gründen belastet. Die DPs standen noch unter dem Eindruck des Leids, das ihnen widerfahren war. Bei Übergriffen, darunter Beutezüge in die nahe Umgebung, spielte womöglich nicht nur ihre schlechte Versorgungslage eine Rolle, sondern auch das Motiv Vergeltung.

Die Madonna stand früher im DP-Lager an der Varusstraße und war von Bewohnern gestiftet worden, heute ist sie auf katholischen Friedhof Hullerner Straße bei Gräbern von DPs zu finden. © Jürgen Wolter
Den Blick in die Geschichte möglich machen
Stadtarchivar Gregor Husmann hat den Überblick über die Quellen zum DP-Lager in Haltern, von denen einige im Original vorhanden sind. Es gibt darüber hinaus eine Reihe von Veröffentlichungen zum Thema, die den Alltag in dem Camp und seine Geschichte beleuchten. Es gibt auch Schülerarbeiten, deren Entstehung von Gregor Husmann unterstützt wurden. Junge Halterner setzen sich darin mit dem besonderen Kapitel der Stadtgeschichte auseinander und lernen daraus für ihre Zukunft.
Stadtarchivar Gregor Husmann zeigt eine wichtige Quelle für das DP-Lager, deren Original-Details im Archiv der Vereinten Nationen in New York aufbewahrt wird. © Silvia Wiethoff
Die Halterner, die ihre Wohnungen binnen zwei Stunden hatten räumen müssen (die Anordnung war ihnen von den Alliierten über Lautsprecher mitgeteilt worden), sahen ihre Ausquartierung wiederum als Unrecht an und fühlten sich ohnmächtig. Ursprünglich hatte man ihnen gesagt, sie müssten ihre Wohnungen nur kurze Zeit verlassen. Tatsächlich wurde das DP-Lager in Haltern aber erst 1948 aufgelöst. Die Häuser, in die die früheren Bewohner zurückkehren durften, waren nicht pfleglich behandelt worden und befanden sich in einem sehr schlechten Zustand.
Die Halterner Bevölkerung war verunsichert
„Die Bevölkerung ist von panikartiger Polenangst erfüllt, die in ihren unheilvollen Wirkungen tiefer geht als die schwerste Bombenpanik des Krieges“, schrieben Halterner Bürger 1946 in einem Memorandum.
Zu Empathie für die besondere Situation der von den Nazis verschleppten Polen, die aufgrund schlechter Transportmöglichkeiten erst verspätet in ihre Heimat zurückkehren konnten, war man damals nicht in der Lage. Dabei mag auch die Propaganda der NS-Zeit und der Begriff des „Untermenschen“ Einfluss genommen haben. Zusammengekommen sind die Halterner mit den DPs nicht. Wer als Deutscher das Lager in Haltern betreten wollte, brauchte einen Passierschein.

Kinderkommunion im DP-Lager 1947 © Rektorat der Polnischen Katholischen Mission in Deutschland
Obwohl sich das Leben der ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter nach dem Kriegsende verbessert hatte, war der Alltag in den DP-Lagern alles andere als rosig. Das zeigt allein die hohe Säuglingssterblichkeit. Mindestens 46 Todesfälle von Babys sind nach einer Gräberliste auf Halterner Friedhöfen belegt. Eine andere Quelle nennt nur für das Jahr 1947 48 Sterbefälle von Kindern unter einem Jahr.
Es gab übrigens damals auch schon Jugendliche, die sich ohne elterliche Begleitung im Lager befanden. So wird darüber berichtet, dass eine Gruppe von fünf Jungen im Alter zwischen 14 bis 18 Jahren der Lagerleitung Probleme bereitete.

Theatergruppe im DP-Lager Haltern © Stadtarchiv Haltern
Der Lager-Alltag spiegelt wider, dass die Information und die Zerstreuung auch oder besonders in schwierigen Zeiten zu den wichtigen Bedürfnissen des Menschen gehören. Es gab eine eigene Lagerzeitung und eine Theaterszene. In dem Buch „Zwischen Ungewissheit und Zuversicht. Kunst, Kultur, und Alltag polnischer Displaced Persons in Deutschland 1945-1955“ wird von vier verschiedenen Theatergruppen im Halterner DP-Camp berichtet.
Insgesamt habe das Angebot der Gruppen „von lustigen Komödien über Operetten und Opern bis hin zu klassischen Dramen“ gereicht.
Die Kirche hatte große Bedeutung im Lager
Große Bedeutung hatte die katholischen Kirche bei den polnischen DPs. Eigene Geistliche betreuten die Menschen und vermittelten ihnen vermutlich ein Stück Heimat und Beständigkeit. Als Zeichen zurückgewonnener Normalität können die Trauungen gelten, die für das Halterner DP-Lager registriert wurden. Während der Existenz des Camps sind 415 im Pfarrbuch nachgewiesen. Im Juni 1945 soll es sogar eine Massenhochzeit mit 82 Paaren gegeben haben. Im Oktober 1945 lebten 1874 Männer, 1026 Frauen und 331 Kinder unter 14 Jahren im Halterner Lager.

Lehrer und Teilnehmer eines Kurses für Schlosser und Schweißer in Haltern © Rektorat der Polnischen Katholischen Mission in Deutschland
Auch in anderer Hinsicht bereiteten sich die DPs auf ihre Zukunft vor. Fotos zeigen Frauen in einem Nähkurs und Männer, die an einer handwerklichen Ausbildung teilnahmen. Es haben sogar DPs aus Haltern die Universität in Münster besucht.
In die Heimat wollten nicht alle wieder zurückkehren. Vielleicht mag der eine oder andere gewusst haben, dass es dort niemanden mehr geben würde, der wartet. Andere fürchteten sich wohl vor geänderten politischen Verhältnissen, beispielsweise vor dem russischen Einfluss in Polen.
Einige DPs kehrten nicht in die Heimat zurück
Wer von ihnen die Möglichkeit hatte, wanderte in die USA, nach Kanada, Australien oder Neuseeland aus. 1948 wurde das DP-Lager in Haltern aufgelöst. Geblieben ist die von Bewohnern gestiftete Madonna, die früher im Lager an der Varusstraße stand und heute zwischen Gräbern ehemaliger Zwangsarbeiter auf dem Friedhof an der Hullerner Straße zu finden ist.
Jeder Mensch hat eine Geschichte zu erzählen und hinter jeder Zahl steckt eine ganze Welt. Das macht den Journalismus für mich so spannend. Mein Alltag im Lokalen ist voller Begegnungen und manchmal Überraschungen. Gibt es etwas Schöneres?
