Michael Groß, SPD-Bundestagsabgeordneter, bereitet sich auf seinen Rückzug vor. Er sprach mit uns über Erreichtes, politische und private Ziele, über das SPD-Personal und über Haltern.

Haltern

, 23.12.2020, 11:00 Uhr / Lesedauer: 6 min

Nach drei Legislaturperioden im Berliner Bundestag zieht sich Michael Groß (SPD) aus Marl zurück. Er ist Repräsentant des Wahlkreises Recklinghausen II, wozu auch Haltern gehört. Michael Groß sprach mit Ingrid Wielens und Elisabeth Schrief über seine Zeit in der Bundespolitik, aber auch darüber, worauf er sich an Weihnachten besonders freut.

Herr Groß, wie geht es Ihnen in dieser Corona-Zeit?

Wenn man selbst nicht an Corona erkrankt ist, geht es einem doch sehr gut. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen auf der Welt.

Sie waren zu Beginn der Pandemie aber auch in Quarantäne...

Ich war gleich am Anfang in Präventionsquarantäne. Mein Hausarzt hat gesagt: Bleiben Sie mir bloß weg, trinken Sie viel Tee und essen Zitrone (lacht). Das Gesundheitsamt wollte mich auch nicht sehen. Das war anfangs spannend. Jetzt ist alles zum Glück wesentlich geordneter.

Wie oft sind Sie jetzt in Berlin?

Tägliche Videokonferenzen gehören inzwischen zum Alltag, aber bilateral ist mir lieber. Wir hatten jetzt nach den Sommerferien fünf Doppel-Sitzungswochen in Berlin, vor Weihnachten fahre ich noch einmal in die Hauptstadt für eine Doppelwoche. Etwa 30 Wochen im Jahr bin ich unterwegs und in Berlin, die restliche Zeit in meinem Wahlkreis.

Sie starten mit der Gewissheit ins neue Jahr, dass die Bundespolitik keine große Rolle mehr in Ihrem Leben spielen wird. Wie fühlen Sie sich damit ?

Zwei bis drei Legislaturperioden hatte ich mir zum Ziel gesetzt, drei sind es tatsächlich geworden. Mit meinem Abschied falle ich nicht ins Leere. Denn ich habe mir schon eine neue Aufgabe gesucht: Ich hoffe, dass ich im Sommer 2021 zum Präsidenten der Arbeiterwohlfahrt auf Bundesebene gewählt werde. Wenn alles gut geht, habe ich damit vier oder acht Jahre eine spannende Aufgabe. Darauf freue ich mich, weil ich noch ein bisschen gestalten möchte. Mit der Bundespolitik schließe ich ab - ein bisschen wehmütig, aber zufrieden und optimistisch. Bis zum Abschied versuche ich noch einiges für die Region und die Städte zu erreichen.

Haben die vergangenen Monate Ihren Blick auf das Leben verändert?

Die letzten neun Monate habe ich als besonders prägend und anstrengend empfunden. Wir waren bislang immer in der glücklichen Lage, sagen zu können: Wir schaffen es, mit unserem Geld auszukommen und ständig Verbesserungen anzustoßen. Wir waren trotzdem unzufrieden, weil wir noch immer mehr schaffen wollten. Heute, angesichts von Corona, schätze ich mehr als zuvor, welche Gestaltungsmöglichkeiten wir hatten. Die Pandemie zeigt uns, wie wir von unvorhersehbaren und nicht beinflussbaren Ereignissen plötzlich eingeholt werden.

Hat die Pandemie auch das Zwischenmenschliche beeinflusst?
Prägend war für mich in all den Jahren die Unterstützung und Solidarität aus dem Ruhrgebiet. In Berlin habe ich gelernt, dass Politik auf dieser Ebene eine andere ist. Es geht weniger um Freundschaften, es ist mehr Konkurrenz. Das ist eine andere Liga als in der Kommunalpolitik.

Wo haben Sie Akzente in Ihrem Wahlkreis gesetzt?
Mein Blick lag immer auf der Region, auf den Menschen hier. Wir haben es beispielsweise geschafft, trotz schwieriger Rahmenbedingungen die Ausbildungsprämie auf den Weg zu bringen, mehr Geld für die Kinderbetreuung bereitzustellen und überhaupt mehr Geld für Investitionen in der Region. Ich habe mitgeholfen, dass wir den Sozialen Arbeitsmarkt als Regelinstrument bekommen. Das schafft tariflich entlohnte Teilhabe. Das Jobcenter Recklinghausen hat darüber viele neue Jobs besetzen können. Ich bin auch froh, dass wir es geschafft haben, das Kurzarbeitergeld auf den Weg zu bringen und bis zu 24 Monate auszuweiten. Das schafft Sicherheit in der Krise, auch im Wahlkreis profitieren davon die Menschen. Immer wieder habe ich mich dafür eingesetzt, dass unser Wahlkreis von den Förderprogrammen des Bundes ganz konkret profitiert. Das ist dann schon ein gutes Gefühl, wenn Berliner Millionen im Wahlkreis landen.

Sie sind häufig in Haltern. Was verbinden Sie mit der Stadt?

Wenn ich an Haltern denke, dann erinnere ich mich immer an die Flugzeugkatastrophe 2015. Das war ein einschneidendes, tragisches Ereignis. Wenn man sich daran erinnert, lernt man davon auch für die Politik: Dass man sich nicht nur auf das große Ganze konzentrieren muss, sondern auch auf einzelne Schicksale der Menschen.
Die Menschen in Haltern sind nicht anders als die Menschen in Marl. Aber Haltern ist eine schöne Stadt mit schönen Naherholungszielen und einer schönen Innenstadt. Ich freue mich immer, dass man hier in der Gastronomie so herzlich aufgenommen wird, und ich freue mich über schöne Begegnungen und vorbildliches Ehrenamt, wie ich es beispielsweise im Halterner Tafelladen oder im Ernst-Lossa-Haus kennengelernt habe.

Mit Lara Bars (Flüchtlingshelferin im BFD), Aydan Özoguz (Staatsministerin und SPD-Bundesvorstand) besuchte Michael Groß die Flüchtlingsunterkunft am Lorenkamp. Das Ehrenamt in Haltern nennt Groß vorbildlich.

Mit Lara Bars (Flüchtlingshelferin im BFD), Aydan Özoguz (Staatsministerin und SPD-Bundesvorstand) besuchte Michael Groß die Flüchtlingsunterkunft am Lorenkamp. Das Ehrenamt in Haltern nennt Groß vorbildlich. © Kevin Kindel

Wo sehen Sie Ihre Partei, die SPD?

Die SPD hat einen schwierigen Weg hinter sich, er wird auch in Zukunft noch schwierig sein. Das hat mit Konstellationen zu tun, mit der Großen Koalition, aber auch mit unserem Personal. Ich glaube, SPD-Politik war einfacher, als man Persönlichkeiten hatte wie Johannes Rau, den ich persönlich erlebt habe, oder Willy Brandt. Diese Persönlichkeiten, die die Menschen übergreifend faszinierten, fehlen.
Uns ist es auch leider nicht gelungen, deutlich zu machen, wo wir politisch stehen. Das Thema soziale Gerechtigkeit ist eines der wichtigsten. Ökologische Fragestellungen werden von anderen Parteien dominiert. Weniger CO2-Ausstoß, weniger Klimabelastung - wenn wir dazu die Citymaut als Antwort finden, ist das sozialdemokratisch nicht der richtige Weg. Dann können nur die in die Stadt fahren, die über Geld verfügen. Wir brauchen als Antwort vielmehr ein gutes Mobilitätskonzept.
Alle Menschen müssen gleichwertig leben können, wir müssen uns darüber hinaus um mehr Mitbestimmung und die Bekämpfung von Armut kümmern. Leider ist es uns nicht gelungen, die Kindergrundsicherung durchzusetzen. Die Politik, die unsere beiden Vorsitzenden machen, beunruhigt mich schon. Das hatte ich mir anders vorgestellt.

Schreiben Sie erneut einen Brandbrief, wie Sie es zu Zeiten von Andrea Nahles getan haben? Frau Nahles ist danach zurückgetreten.

Ich habe das nicht bereut und würde es noch einmal tun. Wir müssen uns jetzt die Fragen stellen: Sind wir zu weit weg von den Bürgern, bieten wir die richtigen Antworten, haben wir das richtige Personal? Politik ist ein Mandat und kein Beruf. Deshalb muss ein Politiker auch bereit sein, seine Arbeit zu analysieren und Konsequenzen zu ziehen.

Wem trauen Sie denn eher den Parteivorsitz zu?
Wir haben in der SPD viele Menschen, denen ich dieses Amt zutraue. Wir haben deutlich besseres Personal. Olaf Scholz halte ich für einen sehr guten Kanzlerkandidaten. Es ist schwer zu verkaufen, warum die SPD ihn als Kanzlerkandidaten will, aber nicht als Parteivorsitzenden. Die SPD macht sich selber das Leben schwer.

Immer wieder lud Michael Groß Besuchergruppen nach Berlin ein. Der Besuch im Reichstagsgebäude gehörte immer zum Programm.

Immer wieder lud Michael Groß Besuchergruppen nach Berlin ein. Der Besuch im Reichstagsgebäude gehörte immer zum Programm. © Torsten Halm

Es gibt mit Beate Pliete aus Haltern und Brian Nickholz zwei Bewerber um Ihre Nachfolge. Wen favorisieren Sie?

Danach dürfen Sie mich jetzt nicht fragen. Ich favorisiere jemanden, der das Vertrauen der Menschen in den Städten hat und eine gute Politik vertritt. Nach innen werde ich die Frage kommentieren, nach außen nicht. Entschieden wird das am 20. Januar. Leider gibt es kaum noch Regionen, in denen wir Wahlkreise direkt gewinnen. 17 waren es zuletzt im Ruhrgebiet, es wäre schade, wenn die Landschaft nur noch schwarz wäre. Ich kann verstehen, dass Fans sich freuen, wenn Bayern München jede Meisterschaft gewinnt. Aber aufs Politische übertragen, glaube ich doch: Die Vielfalt ist die Stärke der Demokratie.

Welche Ziele müsste Ihr Nachfolger im Blick haben?
Wir haben eine starke chemische Industrie und eine Reihe neuer Arbeitsplätze, aber das ist noch zu wenig. Überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit und zu wenige Ausbildungsplätze brauchen neue Rahmenbedingungen. Wichtig sind auch gleichwertige Lebensbedingungen in allen Städten. Dazu brauchen wir einen Schuldenschnitt, denn die Kommunen werden mit Blick auf die Corona-Belastungen ihre Schulden nicht mehr selbstständig abbauen können. Bildung und Nahverkehr sind weitere wichtige Themen.

Gehen Sie mit dem Gefühl, als Bundestagsabgeordneter einiges erreicht zu haben?
Das müssen andere beurteilen, aber ich bin nicht unzufrieden, wenngleich ich mir manches anders vorgestellt habe. Aber das ist ja auch immer eine Frage von Mehrheiten. Was ich mir zugute halte, ist, dass ich die Abgeordneten des Ruhrgebietes in einem Netzwerk zusammengeführt habe. Nur so konnten wir in Berlin Einfluss gewinnen.

Haben Sie in Berlin Freunde gefunden?
Mit dem Begriff Freundschaften tue ich mich schwer. Es ist eine andere Nähe als zum Beispiel zu meinem besten Freund, mit dem ich seit 40 Jahren eng befreundet bin. Es werden sicherlich Kontakte bleiben. In Berlin habe ich Frank-Walter Steinmeier schätzen gelernt. Die Begegnungen mit ihm sind sehr wertvoll. Ich bin mir sicher, dass er auch heute als Bundespräsident noch ans Telefon geht, wenn ich anrufe.

Bald ist Weihnachten. Wie werden Sie das Fest in diesen besonderen Zeiten feiern?

Ich bin zweifacher Vater und dreifacher Opa. Familienleben ist für mich das Schönste. Vor allem, weil alle gesund sind und Perspektiven haben. Ich habe uns eine digitale Carrera-Bahn gegönnt, die werde ich mit meinem 13-jährigen Enkel aufbauen und wir werden dann auf dem Boden liegen und die Rennwagen in Bewegung bringen. In solchen Momenten bedauere ich besonders, dass es nicht gelungen ist, die Regelbedarfssätze für die, die Grundsicherung beziehen, wesentlich mehr zu erhöhen. Es hätte uns fünf Milliarden Euro gekostet, diesen Menschen, vor allem Alleinerziehenden, Perspektiven in einem ohnehin schwierigen, oft sorgenvollen Alltag zu vermitteln.

Wie behalten Sie die Menschen in Ihrem Wahlkreis in Erinnerung?
Es gab in all den Jahren tolle Rückmeldungen und Diskussionen. Auch Kritik, manche habe ich allerdings nicht verstanden. Grundsätzlich bin ich allen dankbar, die sich mit meiner Politik auseinander gesetzt haben. In meinem Wahlkreis wohnen tolle Menschen, von denen sich viele unheimlich einsetzen. Wenn es sie nicht gäbe, könnten wir so viel Politik machen wie wir wollten, es würde nichts funktionieren.

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