Ein „Lost Place“, ein „verlorener Ort“ in Marl-Sickingmühle an der Grenze zu Haltern-Lippramsdorf soll in neuem Glanz erstrahlen. Das über viele Jahre hinweg in einen tiefen Dornröschenschlaf versunkene Landschaftskunstwerk „Wasserstände“ wird in den kommenden Jahren zu einem attraktiven Ort der Naherholung verwandelt. Das Highlight: Eine Aussichtsplattform am höchsten Punkt des Geländes soll allen Besuchern einen weiten Blick über die Lippeauen und Kunstgenuss von oben ermöglichen.
Mancher Radler, Jogger und Wanderer, der am Wesel-Datteln-Kanal in Sickingmühle unterwegs ist, hat es schon bemerkt: Seit Jahresbeginn tut sich etwas an dem ehemaligen Wasserwerk der Chemischen Werke Hüls, das der 2009 verstorbene, in Recklinghausen geborene Herman Prigann im Jahr 2000 in ein Kunstwerk verwandelt hatte. Seine Idee: Durch das Abstellen der Pumpen versinkt der Gebäudekomplex bei wechselnden „Wasserständen“ langsam im aufsteigenden Grundwasser, die Natur erobert eine Industrieruine zurück.

Für Michael Kleerbaum war der radikale Rückschnitt, den der Lippeverband dort im Frühjahr vorgenommen hatte, zunächst eine herbe Enttäuschung: „Es hatte sich hier ein regelrechter Dschungel gebildet, mit Brombeeren, wilden Erdbeeren, vielen Blumen und Büschen, Sträuchern und Bäumen“, so der 50-jährige Naturfreund aus Erle bei Dorsten, der das Landschaftskunstwerk auf der Suche nach leicht begehbaren Wanderstrecken für Übergewichtige entdeckt hatte.

„Dort habe ich vorher eine ungewöhnlich große Population an Schmetterlingen, Libellen, Bienen, Hummeln und Vögeln gesehen“, sagt der Hobby-Wanderer: „Das Besondere waren die Eisvögel, die man an der „Klippe“ zur Lippe in den Abendstunden beobachten konnte.“ Kleerbaum klagt: „Bei meinem letzten Besuch am 1. Mai war davon nichts mehr sehen, außer einem großflächigen Kahlschlag.“
Ratsherr Karl-Heinz Dargel fordert Turm für die Aussichtsplattform
„Das Landschaftskunstwerk war vollkommen zugewuchert, wir wollen es wieder erkennbar und erlebbar machen“, erklärt Ilias Abawi, Sprecher des Lippeverbands, den Einschnitt. „Also ich war zunächst schon geschockt“, bekennt der Marler Ratsherr Karl-Heinz Dargel. Dem langjährigen Vorsitzenden des Marler Kulturausschusses liegen die „Wasserstände“ besonders am Herzen: „Die haben da wirklich alles abrasiert, aber inzwischen hat die Natur für neues Grün gesorgt“, so Dargel: „Jetzt kann ich mit dem aktuellen Zustand wieder leben.“ Dargel setzt sich für einen mehrere Meter hohen Turm als Basis für die geplante Aussichtsplattform ein.

Der Grundeigentümer Lippeverband hat weit mehr als die Kunst im Auge. „Wir wollen die Lippeauen erweitern und renaturieren“, so Ilias Abawi: „Im Zuge des Großprojekts HaLiMa setzen wir seit 2016 im Bereich Haltern-Lippramsdorf-Marl die Lippedeiche zurück, um dem Fluss etwa bei Hochwasser mehr Raum zu geben.“ Die „Wasserstände“ werden in das Vorhaben integriert. Hochwasserschutz, Naturschutz, Naherholung und Kunst sollen hier unter einen Hut gebracht werden.
Feste Rad- und Fußwege sollen angelegt werden

„Mit dem massiven Rückschnitt wollten wir das Kunstwerk nicht beeinträchtigen, wir wollten einen ersten Überblick über das Gelände gewinnen“, so Abawi. Aktuell laufen beim Lippeverband die Planungen. Bis 2026 soll für einen sechsstelligen Euro-Betrag nicht nur die Aussichtsplattform entstehen. Auch befestigte Rad- und Fußwege rund um das alte Wasserwerk werden angelegt. Die Lippe bekommt mehrere naturnahe Ausbuchtungen und Inseln. Große Infotafeln sollen Natur und Kunst erklären, ein Pegelhäuschen soll über Pegelstand, Wasserführung und Fließgeschwindigkeit der Lippe Auskunft geben.

Nach der Sommerpause will der Lippeverband nach Ilias Abawis Angaben die Pläne in den Gremien des Marler Stadtrats vorstellen. „Wir werden nicht nur die Politik, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger vorab umfassend informieren“, verspricht der Lippeverband-Sprecher.

Michael Kleerbaum mag Natur und „verlorene Orte“. „Ich finde die Pläne des Lippeverbandes prima, trotzdem schlagen zwei Herzen in meiner Brust“, bekennt der Naturfreund: „Ich fände es schön, wenn hier etwas von der Ruhe und Abgeschiedenheit eines geheimnisvollen Ortes erhalten bleibt und Insekten, Vögel und seltene Pflanzen weiter einen geschützten Lebensraum haben.“
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