Knappschaft verschleppt Antrag auf Elektro-Rollstuhl „Ich schaffe es nicht mehr allein“

ALS-Patient Christian Bergeest braucht Rollstuhl: Knappschaft ist stur
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Christian Bergeest liebt die Nähe zum Wasser. Er suchte sich deshalb eine Wohnung in der Nähe des Stausees und hat den See fast täglich umrundet. Heute lebt er im Wohnzimmer seiner Eltern - ganz und gar auf Hilfe angewiesen. Vor drei Jahren erhielt der heute 41-Jährige die Diagnose ALS.

Bei der amyotrophe Lateralsklerose kommt es zu einer fortschreitenden und irreversiblen Schädigung oder Degeneration der Nervenzellen, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind. Die Krankheit ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass Christian Bergeest dringend einen Elektro-Rollstuhl mit motorisch betriebener Stehvorrichtung benötigt. Aber seine Krankenkasse, die Knappschaft, bewilligt ihn nicht und will ihn stattdessen mit einem Lagerbestand abspeisen.

Die Knappschaft verspricht „Bei uns sind sie versorgt, wenn es darauf ankommt“. Daran hat Christian Bergeest tatsächlich geglaubt, als er sich bei der Knappschaft versicherte. Als Fachgesundheits- und Krankenpfleger für den Operationsdienst wollte er mit dem Wechsel zum Knappschaftskrankenhaus bewusst und aus idealistischen Gründen auch ein „Knappe“ sein, wie er erzählt.

„Ich habe mich mit meinem Arbeitgeber identifiziert, bin sogar in die Nähe des Arbeitsplatzes gezogen.“ Heute mag er das Wort „Knappschaft“ nicht mehr hören. Auch, weil der Arbeitgeber ihn nach der Diagnose gnadenlos abgeschrieben hatte.

Vor vier Jahren zeigten sich erste Symptome seiner Erkrankung, ein Jahr Odyssee durch viele Arztpraxen folgte, „immer in der Hoffnung, dass Medikamente oder Therapien Heilung bringen. Alles war mir lieber als die schreckliche Diagnose.“

Heute ist sein rechter Arm gelähmt, seinen linken Arm kann er nicht mehr bis auf Schulterhöhe heben, er kann nur minimale Schritte gehen, das Essen wird ihm gereicht, mal eben zum Telefonhörer greifen oder Mails schreiben - das geht nicht mehr. Wenn er den Elektro-Rollstuhl mit Hubfunktion bekäme, könnte er wenigstens allein zur Toilette gehen.

Wirtschaftliche Argumente

Am 4. September 2023 hatte der 41-Jährige einen Antrag bei seiner Krankenkasse eingereicht. Erst im Januar 2024 antwortete die Abteilung Hilfsmittel. Plötzlich hieß es, aus wirtschaftlichen Gründen solle er sich an einen Vertragspartner der Krankenkasse wenden, der einen Rollstuhl auf Lager habe. Aber Christian Bergeest benötigt einen Rollstuhl, der an seinen Körper und vor allem seine Größe (1,93 Meter) angepasst ist und der sich über einen Joystick steuern lässt. Die Krankenkasse, so vermutet er, will Kosten zwischen 23.000 und 50.000 Euro sparen.

Petra, eine Freundin, unterstützt ihn inzwischen bei den Verhandlungen mit der Krankenkasse. „Ihm wird großes Leid angetan“, sagt sie. Sie erzählt von einem ähnlichen Fall 2019 in Oer-Erkenschwick. Die Versicherte der Knappschaft litt ebenfalls an ALS. Auch sie kämpfte um einen Elektro-Rollstuhl. Als nach eineinhalb Jahren die Bewilligung kam, war die Versicherte tot. „Eigentlich muss innerhalb von drei Wochen über Hilfsmittel entschieden werden“, betont Petra.

Rollstuhl aus Sozialkaufhaus

Christian Bergeest könnte die Krankenkasse wechseln, diese zusätzliche Belastung aber kann er nicht mehr verkraften. Außerdem sagt er: „Jetzt bin ich so lange bei der Knappschaft versichert, da fordere ich mein Recht ein.“ Zurzeit bewegt sich der 41-Jährige mit einem Rollstuhl aus dem Sozialkaufhaus fort. Aber nicht allein, dafür reicht die Kraft in den Armen nicht mehr.

Infotafel Knappschaft Bahn See
Das Fachzentrum für Hilfsmittel der Krankenkasse Knappschaft Bahn See in Frankfurt ist für den Antrag des Halterners zuständig. Er hat eine Verordnung für einen elektrischen Rollstuhl, aber die Knappschaft lässt ihn im Ungewissen. (Symbolbild) © Marcel Kusch

Der neue Rollstuhl würde seine Lebensqualität entscheidend verbessern. Christian Bergeest möchte gern seine letzte Lebenszeit intensiv mit seiner 16-jährigen Tochter verbringen, dafür fehlt ihm jedoch die Bewegungsfreiheit. Selbst die sozialen Kontakte, die ihm so wichtig sind, sind ausgebremst. Ein Elektro-Rollstuhl mit Hubfunktion würde auch die häusliche Krankenpflege erleichtern und würde seiner Familie ermöglichen, den Sohn und Bruder auch einmal allein lassen zu können. „Ich wäre sehr glücklich über eine Unterstützung der Krankenkasse.“

Leben mit viel Verzicht

Dankbar ist er für die Begleitung und Hilfe von Familie und Freunden. Die wiederum bewundern seinen „grandiosen“ Umgang mit der grausamen Krankheit. „Es kostet mich viel psychische Kraft zu beobachten, wie mein Körper und mein Leben sich verändern“, sagt Christian Bergeest. Er habe inzwischen einen versöhnlichen Umgang damit gelernt. Auch, wenn er seine Unabhängigkeit vermisst, die geliebten Spaziergänge, die Museumsbesuche. „Ich weiß, worauf es für mich jetzt ankommt und ich habe gelernt, mit viel Verzicht zu leben. Heute bin ich trotz allem glücklich. Vor zwei Jahren war dieser Zustand nicht erreichbar.“

Seine Lebenserwartung ist begrenzt, aber mit einem Elektro-Rollstuhl könnte Christian Bergeest noch auf ein bisschen mehr lebenswerte Zeit hoffen. Die zuständige Knappschaft Bahn See, Frankfurt, gibt der Redaktion keine Auskunft. Sie beruft sich auf den Datenschutz.

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