Die Schlagzeilen in Haltern überschlugen sich am 26. Juli 1970: „Der 14-jährige Hauptschüler Heinz Gerding ist Bundessieger der Seifenkistenfahrer!“ Diesen bisher größten Halterner Erfolg der jungen Seifenkisten-Asse errang „Sturmi“ auf der 340 Meter langen Strecke in Duisburg vor 20.000 Zuschauern in 30,5 Sekunden. Die Stadt Haltern hatte damals ihren ersten Deutschen Meister, sie feierte ihren Champion mit einem Autokorso durch die Stadt und einem großen Versprechen.
Einmal im Jahr trifft sich ein kleiner Kreis ehemaliger Seifenkistenfahrer bei Ulrich Hatkämper an der Sixtusstraße, um in Erinnerungen und Fachsimpeleien zu schwelgen. Heinrich Gerding ist immer dabei. Er wohnt heute mit seiner Frau in Rheinbach, einer Stadt im Rhein-Sieg-Kreis.
Geld für die Ausbildung
Er war während seines Berufslebens Chief Medical Officer in den Pallas Kliniken in Olten/Schweiz. Heute ist Prof. Dr. med. Heinrich Gerding Senior Consultant bei den Pallas Kliniken und gehört weltweit zu besten wissenschaftlichen Gutachtern im Bereich Ophthalmologie (Augenheilkunde). Auch für den Vatikan hat der Mediziner schon gearbeitet.
„Der 26. Juli war ein Fest“, denkt der 66-Jährige noch immer gern an die aktive Seifenkisten-Zeit zurück. Als Siegprämie erhielt er damals 7000 DM für seine berufliche Ausbildung (zum Vergleich: der teuerste Opel kostete zu jener Zeit 8000 DM) und ein Ticket zu den Weltmeisterschaften in den USA.

Opel war bis 1971 der Sponsor der Seifenkistenrennen auf Lokal- und Bundesebene. Deshalb holte Opel-Händler Helmut Hahn den Deutschen Meister einen Tag nach dem rasanten Abfahrtsrennen in Duisburg in einem geschmückten Opel Admiral an der Autobahnraststätte Recklinghausen ab und fuhr ihn wie einen Helden durch die Stadt bis zum Rathaus, wo ihn Bürgermeister Josef Paris empfing.
Tüfteln war sein Ding
„Junge, Du bist ein guter Schüler und ein Talent. Ich helfe Dir auf einen guten Berufsweg“, versprach das Stadtoberhaupt - von Beruf Schulleiter der Berufsbildenden Schulen Haltern - und hielt dieses Versprechen tatsächlich. Er ermutigte den Hauptschüler, auch schulisch Gas zu geben, was zunächst zur Ausbildung als Maß- und Regelmechaniker im Chemiepark Marl führte, dann zum Abitur und Medizin- und Physik-Studium, beruflich schließlich an die Augenklinik in Münster und dem Ruf in die Schweiz. Die Augenklinik ist mit 150.000 Patienten und über 60 Ärzten nach Wien und London die größte in Europa.

Tüfteln, das war immer sein Ding, auch das seines Vaters Heinrich. Zusammen mit ihm stand er Abend für Abend in der Werkstatt, um aerodynamische Rennwagen aus Holz zu bauen. Alles Handarbeit! „Viel Überlegung und Intuition waren vonnöten“, schmunzelt Heinrich Gerding.

Die Katholische Junge Gemeinde (KJG) St. Sixtus organisierte damals die Seifenkistenrennen in Haltern vor hunderten von Zuschauern. Auch mit Hilfe vieler Sponsoren, wie beispielsweise der Halterner Zeitung. Die heimischen Piloten waren in ihren selbstgebauten Kisten gut, 1976 stellte Haltern beispielsweise mit Kay Wagner wieder einen deutschen Meister. Das erste Rennen fand 1960 auf dem Annaberg statt. Der erste Sieger hieß Franz Tewes, seine Kiste war auf Kinderwagenrädern unterwegs. Später wechselten die Organisatoren zur Burbrockstraße, dann zur abschüssigen Römerstraße.
Reise nach Amerika
Die Fahrkarte nach Amerika waren nach der Begegnung mit Fußball-Idol Franz Beckenbauer und Schlagersängerin Gitte Henning während des Meisterschaftsrennens 1970 in Duisburg ein absoluter Traumgewinn. Wer kam zu jener Zeit schon über den großen Teich? Eine 17-tägige Rundreise führte den jungen Halterner durch Amerika, Höhepunkt war das Weltmeisterschaftsrennen in Akron/Ohio. Hier blieb Heinrich Gerding der Siegerkranz zwar verwehrt, aber immerhin gewann er mit seinem Vater den internationalen Konstruktionspreis. Die Halterner Kiste blieb als Museumsstück in den USA. Sie ist heute leider verschollen.

Aber natürlich sind es die Erinnerungen nicht. Heinrich Gerding plant ein Buch über die Halterner Seifenkisten-Ära, die in den 80er-Jahren in Haltern endete, in Sythen noch kurz wieder auflebte, aber nun tatsächlich ein Teil der Stadtgeschichte ist. Einmal im Jahr aber, bei den Treffen an der Sixtusstraße, ist das abgefahrene Abenteuer so gegenwärtig, als habe die Zeit stillgestanden.
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