Darum ist ein Glas Sekt in der Schwangerschaft so gefährlich Diakonie berät in Haltern

Darum ist ein Gläschen Sekt in der Schwangerschaft so gefährlich
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„Ach komm‘, nur ein Gläschen Sekt zum Anstoßen. Das macht doch nichts.“ Dieser Griff zum Glas kann für schwangere Frauen fatale Folgen haben. Denn schon geringste Mengen Alkohol können beim ungeborenen Kind schwere dauerhafte Schäden verursachen. Eine Diagnose heißt dann FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) – quasi ein „Chaos im Kopf“, wie es Sozialpädagoge Jarne Jaeckelson in seinem Poetry-Slam nennt.

Sozialpädagogin und FASD-Fachkraft Astrid Exner ist es wichtig, die Mütter nicht zu stigmatisieren. „Manche haben einmalig Alkohol getrunken, zu einem Zeitpunkt, wo ihnen die Schwangerschaft noch gar nicht bewusst war. Der Pranger nützt niemandem“. Sie selbst hat ein Pflegekind mit der Diagnose FASD.

Die Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen bietet jetzt eine Fachberatung für Eltern, Kinder und Angehörige zum Thema Fetales Alkoholsyndrom an. Eine Auftaktveranstaltung war jetzt im Diakoniehaus in Haltern mit 100 Fachleuten und Betroffenen.

Clara und Luise Andrees.
Wollen über FASD aufklären: Clara und Luise Andrees. Die Zwillinge sind 31 Jahre alt. Im Alter von drei Jahren erhielten sie die Diagnose FASD. © Christof Perrevoort

An FASD erkrankte Kinder zeigen eine Bandbreite von Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten: mangelnde Impulskontrolle zum Beispiel. Aber auch der völlige Rückzug aus dem Leben kann eine Folge sein – ebenso Wachstums- und Entwicklungsprobleme, Lernschwierigkeiten. Die Kinder können auf vielen Ebenen Defizite haben – das zeigt die Grafik.

Grafik mit Entwicklungsstufen eines 18-jährigen FASD-Patienten
Jeweiliger Entwicklungsstand eines 18-jährigen FASD-Patienten. © Diakonie

Beeindruckend auf der Auftaktveranstaltung der FASD-Fachberatung in Haltern war der Vortrag von Clara und Luise Andrees (31), die als „FASD-Twins“ einen Instagram-Kanal und einen Blog betreiben und auch in TV-Talks von ihrem Schicksal berichten. Als sie 1994 in Berlin zur Welt kamen, waren sie „gerade so groß wie eine Zuckertüte“. Mit drei Jahren kam die Diagnose FASD. Aber sie haben ihren Weg gemacht.

Neun Jahre Ausbildung

Bis zu ihrem 12. Lebensjahr haben sich die beiden nur in einer eigenen Sprache unterhalten, die auf Mimik und Gestik basierte. Nach vielen Rückschlägen und Mobbingerfahrungen haben sich die Zwillinge über das Berufsbildungswerk erst in Hauswirtschaft, dann als Sozialassistentinnen und schließlich zu Heilerziehungspflegerinnen ausbilden lassen. Nach neun Jahren Ausbildung kümmern sie sich nun um Schlaganfallpatienten und Menschen mit FASD.

Auch Petra Räder aus Recklinghausen ist betroffen. Die Mutter eines 26 Jahre alten Sohnes nahm ein Pflegekind auf, als es sieben Monate alt war. Sie wunderte sich mit der Zeit: Fabian zeigte sich häufig im Alltag massiv überfordert. „Es gibt Situationen, da wechselt er nach 20 Minuten in den Kampfmodus“, berichtet die Mutter. Fabian schlug um sich, kletterte Fassaden hoch, lief weg - sogar die Mutter griff er an.

Fabians leibliche Mutter hatte auf Partys Alkohol getrunken und erst viel später erfahren, dass sie schwanger war. Petra Räder: „Mit Tabletten helfen wir Fabian.“ Die Hilfen und Beratungen seien kein Sprint, „das ist ein Marathon“, sagt Astrid Exner. Der Gedanke „Morgen ist ein neuer Tag“ hilft Petra Räder, die Belastungen durchzustehen. Und die Beratung und Unterstützung durch die Fachstelle.

Mitleidsvolle Blicke von anderen Menschen im Supermarkt, wenn Fabian mal wieder ausrastet, hat sie gelernt, zu ignorieren. „Ich weiß ja, dass er nicht anders kann. Es ist wie ein Zwang. Hinterher entschuldigt er sich immer, sein Verhalten tut ihm dann leid“, sagt Räder.

Zellen werden geschädigt

FASD-Experte Ralf Neier: „Nur 20 Prozent der betroffenen FASD-Mütter waren alkoholsüchtig – alle anderen haben nur zufällig oder gelegentlich Alkohol getrunken.“ Das Problem sei, dass Erwachsene vielleicht zehn Stunden brauchen, um den Alkohol im Körper abzubauen. Das Kind im Mutterleib benötige dafür 100 Stunden. Entsprechend groß sei die Gefahr, dass in dieser Zeit wichtige Zellen beschädigt würden.

Und Astrid Exner weiß: „Kinder mit FASD haben im Alter von zehn Jahren 20.000 mehr negative Rückmeldungen (‚Sei still‘, ‚Lass das‘) als Kinder ohne FASD.“ Erschreckend: Alle 45 Minuten kommt ein Kind mit FASD zur Welt.

Was betroffenen Kindern hilft ist Verständnis, ein liebevolles Umfeld und viel Geduld. Viele Eltern wissen gar nicht, dass ihr Kind unter FASD leidet. Sie denken zunächst, ihr Kind habe ADHS oder eine Form von Autismus, sagt Astrid Exner.

Diakonie-Station Haltern an der Reinhard-Freericks-Straße.
Diakonie-Station Haltern an der Reinhard-Freericks-Straße. © Christof Perrevoort

Clara und Luise wünschen sich für Menschen mit FASD von anderen „Zeit, Geduld und ganz viel Liebe“. Und für die Zukunft wünschen sich die Zwillinge, „vielen Menschen zu helfen, gesund zu bleiben und unsere Beziehungen zu erhalten“.

Und Astrid Exner wünscht sich, dass die Problematik endlich in der Gesellschaft ankommt und wahrgenommen wird. Bis 2019 habe es in Fachbüchern für Hebammen noch geheißen, dass ein Glas Rotwein die Wehen fördern könne.

Zum Thema

FASD: Hier gibt es Hilfe

Das Beratungsangebot der Diakonie richtet sich an Eltern, Kinder und Angehörige. Ansprechpartnerin ist Astrid Exner vom Fachdienst Pflegefamilien. E-Mail: a.exner@diakonie-kreis-re.de

Zur Homepage von Clara und Luise geht es HIER.