Linda starb 2015 bei der Germanwings-Katastrophe Für ihre Familie blieb die Welt stehen

Linda starb 2015 bei der Germanwings-Katastrophe: Für ihre Familie blieb die Welt stehen
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Ihre Tochter Linda Bergjürgen gehört zu den 149 Opfern der Flugzeugkatastrophe in den französischen Alpen, die am 24. März 2015 die Welt der betroffenen Familien zum Stillstand brachte. Der dritte Frühling ohne Linda „Wie kann es sein, dass Blumen blühen und die Sonne scheint?“, fragte sich Steffi Assmann in den ersten Tagen nach dem Absturz der Germanwings-Maschine, während immer neue erschütternde Tatsachen über die Ursache bekannt wurden.

Die Eltern mussten aushalten, was nicht zu ertragen ist. Linda war erst 15 Jahre alt, als der Co-Pilot den Airbus A320 absichtlich gegen das Bergmassiv lenkte. Mit ihr fanden aus Haltern am See 15 weitere Schülerinnen und Schüler sowie zwei Lehrerinnen den Tod.

Nun ist es schon der dritte Frühling, den die Eltern ohne ihr Kind erleben. Die Welt hat sich wider Erwarten auch für sie weitergedreht. Die fassungslose Ohnmacht über den Verlust ist schmerzlicher Gewissheit gewichen. Steffi Assmann (48) und Willi Bergjürgen (56) üben sich nach wie vor darin, das Leben ohne Linda zu meistern. Es sind nicht mehr alle Stunden so dunkel wie in den ersten Wochen nach der Tragödie.

Das Herz hat sich an den Schmerz gewöhnt, der sich als Dauergast eingenistet hat und nicht mehr weichen will. Ihn akzeptierend, gibt es wieder Zeiten für das Lachen und die schönen Dinge innerhalb einer Familie. Auch für Lindas jüngeren Bruder Christian arbeiten die Eltern mithilfe professioneller Unterstützung daran, dem Tod nicht das letzte Wort zu lassen und in Bitternis zu verharren. Aber das ist unsagbar schwer.

Steffi Assmann und Willi Bergjürgen besuchen die Gedenkstätte für die Halterner Opfer der Flugzeugkatastrophe auf dem Sundernfriedhof oft. Hier befindet sich auch das Grab ihrer Tochter Linda, die gemeinsam mit vier weiteren Schülerinnen neben dem grünen Klassenzimmer bestattet wurde.
Steffi Assmann und Willi Bergjürgen besuchen die Gedenkstätte für die Halterner Opfer der Flugzeugkatastrophe auf dem Sundernfriedhof oft. Hier befindet sich auch das Grab ihrer Tochter Linda, die gemeinsam mit vier weiteren Schülerinnen neben dem grünen Klassenzimmer bestattet wurde. © Silvia Wiethoff

Die Familie ist festen Willens, ihr Schicksal zu meistern

Jeder Tag ist erfüllt mit Gedanken an die verlorene Tochter. Trotzdem solle „Linda nicht immer an erster Stelle stehen“, sagt Steffi Assmann. Der elfjährige Christian habe es nicht leicht und spüre mit seinen feinen Antennen jede Gefühlslage in der Familie. Sein Wunsch ist Normalität, und so hat er sich beispielsweise an Weihnachten ein besonders schönes Fest gewünscht. Die Eltern haben es ihm geschenkt. Es sei gar nicht so schwer gewesen. „Linda hat Weihnachten auch immer so geliebt“, fügt die Mutter leise hinzu.

Die Familie ist festen Willens, ihr Schicksal zu meistern, obwohl die Lücke, die durch Lindas Tod entstanden ist, niemals zu füllen sein wird. Auf ihrem Weg sind besonders schwierige Hürden nicht zu umgehen.

Platz für die Jugendlichen in der Abizeitung

Für Steffi Assmann und Willi Bergjürgen und die anderen Halterner Eltern wird das in diesem Jahr neben dem Jahrestag der Katastrophe auch die Abiturfeier der Klassenkameraden am Joseph-König-Gymnasium sein. „Das ist für uns so schlimm wie Geburtstag und Jahrestag zusammen“, beschreibt das Ehepaar seine Empfindungen.

Sie wenden sich aber mit dem Appell an Lindas Mitschüler, das Abitur ausgiebig und kräftig zu feiern. „Das würde sich unsere Linda auch wünschen“, betonen sie. Die Schüler hätten jedes Recht darauf, dass die Reifeprüfung als Meilenstein in ihrem Leben gewürdigt werde. Sie sollen sich mit ihren Eltern über das Erreichte freuen.

Tröstlich ist es für Lindas Eltern, dass die Verstorbenen in der Schulgemeinde des Joseph-König-Gymnasiums nicht vergessen sind. So wurde das Ehepaar gerade von einer Mitschülerin Lindas besucht, die an der Vorbereitung einer Abizeitung beteiligt ist. Auch die toten Jugendlichen werden ihren Platz in der Erinnerungsbroschüre bekommen. Ursprünglich hatte man wohl geplant, der Verstorbenen am Anfang der Sonderzeitung zu gedenken.

Die Schüler aber haben entschieden, dass ihre Fotos genau wie die der anderen Klassenkameraden im ganzen Heft verteilt werden. So sind sie noch immer Teil der Schulgemeinde und ihren Freunden ganz nah. „Für mich ist es eine schöne Vorstellung, dass unsere Kinder nicht vergessen sind“, sagt Steffi Assmann.

Wie viel Raum darf die Trauer noch einnehmen?

Hinterbliebenen nicht verborgen, dass es in Haltern durchaus auch Reaktionen gibt, die angesichts des Themas eine Sättigung durchblicken lassen. Heilt die Zeit nicht auch diese Wunden irgendwann? Darf die Trauer nach zwei Jahren noch so viel Raum einnehmen?

„Für die anderen ist längst wieder der Alltag eingekehrt“, weiß Willi Bergjürgen. Es bestehe eine Diskrepanz zwischen dem, was die Unbeteiligten empfinden und dem, was die Betroffenen immer noch durchmachen. Die Eltern wollen gerade nicht vergessen. Auf die Frage, was sie sich stattdessen wünscht, erklärt Steffi Assmann: „Dass ich mich meiner Tochter nahe fühle. Dass ich sie wiedersehe, noch viel mehr. Und dass ich daran glauben könnte.“

Das Grab von Linda auf dem Sundernfriedhof in Haltern am See
Das Grab von Linda auf dem Sundernfriedhof in Haltern am See © Silvia Wiethoff

Unvergessen – immer wieder der Besuch am Grab

Das Grab von Linda befindet sich gleich neben der Gedenkstätte für die Halterner Opfer des Flugzeugabsturzes auf dem Sundernfriedhof in Haltern am See. Fünf Schülerinnen, die einem Spanischkurs angehörten und von einem Besuch bei ihrer Partnerschule Institut Giola in Llinars del Vallès nie zurückgekehrt sind, liegen hier neben der als grünes Klassenzimmer gestalteten Erinnerungsstätte begraben.

Auf den Gräbern hat der Frühling in Form von Farben und Blumen bereits Einzug gehalten. Blüten und bunte Wimpel bewegen sich lustig im Wind, so als böten sie dem Tod und seiner Endgültigkeit mit einem Lächeln die Stirn. Steffi Assmann und Willi Bergjürgen gehen oft zum Grab ihrer Tochter und meistens treffen sie dann auf Angehörige der anderen vier Schülerinnen, die hier ihre letzte Ruhe fanden. Es ist noch immer ein Besuch, der unendlich schmerzt. Die schonungslose Frage: Was ist geblieben?

Auf dem Friedhof sind die einsamen Eltern mit der schonungslosen Frage konfrontiert, was ihnen von Linda geblieben ist. „Das ist das Brutale. Das Pulverisierte“, sagt Willi Bergjürgen. Die Tatsache, dass das Flugzeug und mit ihm alle Opfer am Berg zerschellten, macht den Tod der Tochter noch unerträglicher.

Es gab keine Möglichkeit des Abschieds, die hilft, mit dem Geschehen Frieden zu schließen und loszulassen. Linda nahe fühlen sich ihre Eltern nicht auf dem Halterner Friedhof. Steffi Assmann zeigt auf ihr Herz und ihren Kopf: „Ich trag‘ dich bei mir, bis der Vorhang fällt.“

Nähe entsteht auch in Lindas Zimmer, das immer noch so aussieht, als kehre das Mädchen gleich fröhlich von der Schule zurück. An den Wänden hängen Selfies mit den Freundinnen, von denen einige ebenso wie Linda die Welt verlassen haben. Auch Bilder von aufregenden Metropolen wie New York schmücken das Zimmer.

Linda wollte die Welt bereisen, Menschen und Kulturen kennenlernen. Ein Auslandsaufenthalt während der Schulzeit in Houston/Texas war fest geplant. Sandra, ihre amerikanische Gastmutter, hatte sich Linda als Austauschschülerin gewünscht. Morgens erfuhr die Gastmutter, dass ihr Linda tatsächlich zugeteilt worden war und freute sich. Abends wurde sie von der zuständigen Vermittlungsorganisation über den Flugzeugabsturz in den Alpen informiert.

Auf dem Gedenkstein wird an alle 18 Opfer der Flugzeugkatstrophe erinnert, die der Schulgemeinde des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern angehörten.
Auf dem Gedenkstein wird an alle 18 Opfer der Flugzeugkatstrophe erinnert, die der Schulgemeinde des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern angehörten. © Silvia Wiethoff

Warum mussten auch andere sterben?

Noch immer können Lindas Eltern nicht begreifen, warum es dem Co-Piloten nicht ausgereicht hat, sich selbst zu töten. Warum riss er unschuldige, ihm anvertraute Menschen mit in den Tod? Steffi Assmann und Willi Bergjürgen denken dabei nicht nur an ihre Tochter und die Halterner Kinder. „Sie waren dem Piloten fremd“, erklärt Steffi Assmann.

Aber er müsse doch gewusst haben, dass auf den Kollegen im Cockpit eine Frau und zwei kleine Kinder warteten. Der Pilot sei zuvor Langstrecken geflogen und sei im Interesse der Familie auf kürzere Strecken umgestiegen. Er wollte abends zu Hause sein. Verzweifelt versuchte er bis zuletzt, die Tür des Cockpits mit einer Axt zu öffnen.

Der Name des Co-Piloten kommt ihnen nicht über die Lippen

Diese letzten Minuten vor dem Absturz blenden Steffi Assmann und Willi Bergjürgen so gut es irgend geht aus ihren Gedanken aus. „Ich habe die Illusion, dass unsere Kinder geschlafen haben“, sagt die trauernde Mutter. Nachdem sich eine Boulevard-Zeitung damit gebrüstet hat, ihre Redaktion habe ein Video gesichtet, das die letzten Sekunden vor dem Einschlag zeigt, ist es nicht leichter geworden, an dieser Vorstellung festzuhalten. „Ich will so hoffen, dass wir so ein Video nie zu sehen bekommen“, wünscht sie sich.

Das Thema Rechenschaft beherrscht die Gedanken und den Alltag von Steffi Assmann und Willi Bergjürgen nicht. Den Namen des Co-Piloten, der den Familien der 149 Opfer so viel Leid zufügte, möchten sie nicht in den Mund nehmen und auch gar nicht in der Zeitung lesen. Am liebsten hätte Steffi Assmann seine Identität nie erfahren.

„Es sollte unsere Rache sein, ihn nicht zu beachten“, erklärt sie. Trotzdem fragen sich die Eltern, warum der Mann mit der Krankheit Depression überhaupt ein Flugzeug steuern durfte. Dass ein Mensch für den Tod der geliebten Tochter verantwortlich ist und nicht ein technischer Defekt, ist für Lindas Eltern allerdings nicht entscheidend. „Das Schlimmste ist passiert“, sagen sie. Das Ergebnis bleibe immer dasselbe. Linda kehrt nie mehr zurück.

Beim Thema Entschädigung hat das Ehepaar eine klare Meinung. Ihm geht es nicht darum, um Geld zu feilschen, denn die Tochter kann es nicht ersetzen. Sie wünschten sich allerdings, dass alle Hinterbliebenen, egal welcher Nation, gleichbehandelt würden.

Nicht nur Amerikaner, auch die Angehörigen aus anderen europäischen Nationen würden anders abgefunden. Zweifel hegen sie auch an dem von der Lufthansa aufgelegten Stiftungsfonds in Höhe von 15 Millionen Euro. Hier geht es aus ihrer Sicht in erster Linie um öffentlichkeitswirksame Wiedergutmachung, die das Unternehmen ins rechte Licht rücken soll.

Steffi Assmann hat den Angehörigen der Opfer des Amoklaufs auf der norwegischen Insel Utoya einen Brief geschrieben. Sie hat sich mit der Frage gequält, wie die Familien der toten Kinder es aushalten, dass sich der Mörder aus dem Gefängnis meldet und bessere Haftbedingungen einfordert. Auch die norwegischen Angehörigen strafen den Täter mit Nichtachtung, um ihm den Triumph von Allmacht nicht zu gewähren.

Ein anderes Leben

Durch das eigene erfahrene Leid haben sich Steffi Assmann und Willi Bergjürgen nicht in sich selbst zurückgezogen. „Wir sind nicht der Nabel der Welt“, beschreibt Lindas Vater, wie sich die Empfindungen für andere Menschen in Extremsituationen geschärft haben. Dem Ehepaar ist durchaus bewusst, dass der Tod vor keiner Tür haltmacht und Menschen in Ausnahmesituationen führt. „Auch vor und nach uns haben Familien in Haltern ihre Kinder verloren“, macht Willi Bergjürgen deutlich.

Er erinnert sich auch daran, dass in den Medien gleich nach dem Absturz der Germanwingsmaschine vom Untergang eines Flüchtlingsbootes auf dem Mittelmeer mit rund 300 Toten und einem Busunglück in Peru mit ebenfalls vielen Opfern berichtet wurde. Während dem Flugzeugabsturz in den französischen Alpen weltweit große Schlagzeilen gewidmet wurden, seien diese beiden Ereignisse als Randnotiz in zwei kleinen Meldungen erschienen.

Raum für Trauer, aber auch Raum für Freude

Als Gruppe sei den Halterner Kindern sehr viel mehr Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Steffi Assmann denkt an andere Eltern in Haltern, die als Einzelfall ein Kind verloren haben. „Was macht das mit ihnen, wenn ich schon wieder öffentlich über mein Leid sprechen darf und sie nicht?“

Beim Stammtisch der Halterner Eltern, die der 24. März 2015 verbunden hat, muss sich niemand fragen, ob er gerade das Richtige sagt. „Wir brauchen uns voreinander nicht zu verstellen“, beschreibt Willi Bergjürgen den Zusammenhalt. Bei den gemeinsamen Treffen ist Raum für Trauer, aber auch für Lachen. Auf die Frage „Wie geht es Dir?“ muss niemand die Wahrheit verbergen. Die Gemeinschaft im Angesicht von Verlust und Tod ist tröstlich, auch wenn sie die Leere in den Familien nicht füllen kann. Am Ende des Tages sind alle Betroffenen auf sich allein gestellt.

Steffi Assmann und Willi Bergjürgen haben in ihrem Alltag ganz eigene Prioritäten gesetzt. Sie dachte in den ersten Monaten nach Lindas Tod, dass sie nie wieder in ihren Teilzeitjob als Versicherungskauffrau in Münster zurückfinden werde. Dank des Verständnisses ihres Chefs und ihrer Kollegen hat sie aber mittlerweile die Arbeit wieder aufgenommen. „Die Beschäftigung gibt mir Stabilität und ist für mich ein wichtiges Gerüst“, sagt sie.

Ehemann Willi hat die Gaststätte „Uhlenhof“ in Holtwick, die von der Familie Bergjürgen in vierter Generation geführt wurde, an seinen Koch Michael Haverkamp verpachtet und ist als Angestellter im Betrieb beschäftigt. „Weniger Arbeitszeit, weniger Verantwortung“, sagt er.

Mit ihrem Sohn Christian wollen Steffi Assmann und Willi Bergjürgen die schönen Seiten dieses Daseins wahrnehmen und dabei ihre Tochter Linda über alle Zeit im Herzen tragen. „Linda würde es gut finden, dass wir unser Leben geregelt bekommen“, sagen sie. Als Frühlingsboten suchten am Waldrand, kurz vor dem Eigenheim der Familie in Sythen, hunderte Schneeglöckchen das Licht.