„In Deutschland sind im vergangenen Jahr 167.865 Frauen Opfer von Gewalt geworden, 155 kamen dabei zu Tode. Femizide sind eine Extremform dieser Gewalt. Der Orange Day wurde am 25. November 1981 von Menschenrechtsorganisationen gegründet, um jährlich auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die auch heute und hierzulande in erschreckend hohem Maße stattfindet, begangen“, sagte Miriam Breuckmann aus dem Vorstand der SPD Haltern.
Zusammen mit Melanie Kubik (Vorstand IG BCE), Heike Joswig (ASF-Vorsitzende) und Patrick Lojack (Vorsitzender der Ortsgruppe IG BCE Haltern) hatte sie aus Anlass des Orange Days einen Diskussionsabend im Kolpingtreff organisiert.
Dazu hatten sie am Mittwochabend (27. November) hochkarätige Fachleute auf das Podium geladen: Kriminalhauptkommissarin und Opferschutzbeauftragte Marion Bednarz vom Polizeipräsidium Recklinghausen, Petra Kläsener, Juristin und Vorsitzende der Frauenberatungsstelle Frauen helfen Frauen in Marl, Sandy Meinhardt, SPD-Mitglied des Landtags, und den Bundestagsabgeordneten Brian Nickholz (SPD).
Patrick Lojack ergänzte, von Gewalt spreche man nicht erst, wenn die Hand gehoben werde. Gewalt habe viele Facetten und äußere sich auch verbal und psychisch. So gehörten auch Stalking und Alltagssexismus dazu.
Verbale Gewalt bis Mord
Als Kriminalhauptkommissarin hat Marion Bednarz immer wieder mit Opfern häuslicher Gewalt zu tun. „Das geht von leichteren Misshandlungen bis hin zu Mord und Totschlag, schließt aber auch Sachbeschädigung und Vergewaltigung ein“, berichtete sie.

Wie hoch der Bedarf an Hilfe für betroffene Frauen ist, erklärte Petra Kläsener. 800 bis 900 Betroffene suchten jährlich die Beratungsstelle auf. Auch bei ihnen handele es sich zum größten Teil um Opfer häuslicher Gewalt. Immer wieder stelle sie auch fest, dass Frauen sich lange Zeit nicht trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Im Schnitt braucht eine Frau sieben Jahre, um sich tatsächlich aus einer toxischen Beziehung zu lösen“, so Kläsener. Aus Unsicherheit, aber auch aus Angst vor finanziellen und wirtschaftlichen Gründen, kehrten viele immer wieder zu ihren Partnern zurück.

Als Integrationskraft an Schulen hat auch Sandy Meinhardt viele Erfahrungen gemacht. Vor allem Jungen zeigten übergriffiges und zum Teil extrem beleidigendes Verhalten, weil sie es zu Hause genauso erlernten. Zudem habe sie als Politikerin von Kollegen immer wieder den ‚ganz normalen‘ Sexismus erfahren. Auch das Erstarken rechter Parteien dürfe im Zusammenhang mit wachsender Unterdrückung von Frauen nicht übersehen werden.
Man solle nicht nur am Aktionstag hinschauen, bemerkte Brian Nickholz, sondern die Augen stets offenhalten und als Gesellschaft aufmerksam hinschauen, was da mitunter vor der eigenen Haustür geschehe. Als Mitglied des Ausschusses für Wohnen und Stadtentwicklung der SPD-Bundestagsfraktion setzt er sich für Gendergerechtigkeit ein, beispielsweise das Erkennen und Ausschließen von sogenannten Angsträumen.
Auch das Thema Obdachlosigkeit sprach er an: Gerade die verdeckte Obdachlosigkeit, wo Menschen ohne eigene Wohnung bei Freunden oder Bekannten unterkämen, sei weiblich. „Damit landen Frauen immer wieder in Abhängigkeitsverhältnissen. Sie nehmen Gewalt in Kauf, um nicht auf der Straße zu landen.“

Opferarbeit ist Täterarbeit
Es folgten viele Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum. Thematisiert wurde auch das Täter-Opfer-Paradoxon und dass es so anfühle, als würde alles für die Täter, aber nur wenig für die Opfer getan. Petra Kläsener gab zu bedenken, dass dies zwar nicht immer auszuschließen, brach aber eine Lanze für das Rechtssystem: „Der Opferschutz muss ausgebaut werden, ist aber vorhanden. Hilfen müssen sichtbarer werden. Die Täter, oft mit schweren Vorwürfen konfrontiert, werden vertreten. Nicht immer sind die Fälle eindeutig. Das ist eine schwierige Situation für den Rechtsstaat.“
„Wir müssen uns um die Täter kümmern“, bestätigte auch Bednarz. Oft erschienen die Täter in den Medien, die Opfer aber nicht. Auch für die Opfer gäbe es umfangreiche Hilfen. Und letztendlich sei auch Täterarbeit und Aggressionsprävention Opferschutz.
Alle Fachleute bestätigen eine zunehmende Verrohung in der Gesellschaft. Ob sich die Täter der Schwere ihrer Taten vielleicht gar nicht bewusst seien, lautete eine Frage aus dem Publikum. „Die Täter sind sich ihrer Taten sehr wohl bewusst“, antwortete Bednarz, „nach den ersten Übergriffen geloben sie oft Besserung, halten das aber nicht durch.“
Hohe Dunkelziffer
1.281 Fälle von häuslicher Gewalt hat es im Jahr 2022 im Kreis Recklinghausen gegeben, gegenüber 1.156 Fällen im Jahr zuvor. Die Dunkelziffer wird rund fünf- bis zehnmal so hoch geschätzt.
Aber es gebe auch Lichtblicke, schloss Petra Kläsener nach rund zwei Stunden den Abend: Frauen zeigen heute viel schneller an als früher. Dennoch: „Aufklärung tut Not. Jeder muss das nach außen tragen – auch Sie hier im Raum!“